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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Das Monster, sein Baby und der längste Beweis der Mathematik

30 Jahre, hunderte Mathematiker, mehr als 10 000 Seiten: All das erfordert das »Periodensystem der Gruppentheorie«. Darin lauern einige Überraschungen wie das Monster und sein Baby.
Monster vor einem Periodensystem
Das Monster und seine Familie gehören zu den großen Überraschungen der Gruppentheorie.

Jeder Stoff, jedes Material lässt sich dank des Periodensystems genau beschreiben. Denn in dieser Tabelle finden sich alle Atome, aus denen die uns bekannte Welt besteht. Dank der Chemie lässt sich erklären, wie sich die Elemente zusammensetzen, um größere Strukturen wie Moleküle zu bilden. Auch Mathematiker wollten in den 1970er Jahren ein Periodensystem erstellen, um Ordnung in einem Gebiet zu schaffen, das sich mit Mustern beschäftigt. Das mündete in eines der kompliziertesten Unterfangen der Geschichte des Fachs: Mehr als 30 Jahre lang waren mehrere hundert Fachleute daran beteiligt, weit über 10 000 Seiten in verschiedenen Fachzeitschriften zu veröffentlichen, um die »endlichen einfachen Gruppen« zu katalogisieren – und zu beweisen, dass es darüber hinaus keine weiteren gibt.

Anders als bei den chemischen Elementen gibt es zwar unendlich viele endliche einfache Gruppen, aber sie lassen sich in 18 Kategorien einteilen, die in ihrer Anordnung an das Periodensystem erinnern. Damit wären Fachleute vollauf zufrieden – gäbe es nicht 26 Ausreißergruppen, die sich nicht in der Struktur unterbringen lassen. Diese Tatsache treibt Mathematikerinnen und Mathematiker bis heute um: Wie kann es sein, dass sich unendlich viele Vertreter ordentlich in 18 Kategorien eingliedern lassen und 26 einzelne Gruppen nirgendwo dazugehören?

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Diese Unregelmäßigkeit überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, was Gruppen eigentlich darstellen: Es sind Strukturen, die in der Mathematik für Ordnung sorgen. Die einfachsten Vertreter sind so genannten Symmetriegruppen. Wie ihr Name besagt, fangen sie die Symmetrien eines geometrischen Objekts ein. Stellen Sie sich zum Beispiel ein gleichseitiges Dreieck vor. Wenn man es um null, 120 oder um 240 Grad rotiert, sieht es genauso aus wie zuvor. Diese Transformationen werden daher als Symmetrien bezeichnet. Ebenso kann man das Dreieck an drei verschiedenen Achsen spiegeln, ohne dass es sich dadurch verändert.

Symmetrien des Dreiecks | Die Symmetrien eines Dreiecks bilden eine endliche Gruppe.

Wie sich herausstellt, bilden die drei Rotationen zusammen mit den drei Spiegelungen eine Gruppe. Denn sie erfüllen die formalen Eigenschaften, die eine Gruppe ausmachen: Sie enthalten ein neutrales Element (die Drehung um null Grad), jede Transformation lässt sich umkehren und die Hintereinanderausführung von zwei Transformationen (etwa Drehung und Spiegelung) entspricht wieder einem Gruppenelement. Letzteres lässt sich durch ein Beispiel veranschaulichen: Dreht man das Dreieck zuerst um 240 Grad und spiegelt es dann um die Achse S1, dann entspricht das einer Spiegelung um die Achse S2.

Verknüpfung von Operationen

Jede Menge, deren Elemente diese drei Eigenschaften besitzen, bildet eine Gruppe. Damit beschreibt eine solche Struktur nicht nur die Symmetrien einer geometrischen Form, sondern kann auch völlig abstrakte Informationen enthalten. Zum Beispiel stellen auch die ganzen Zahlen mit der Addition als Verknüpfung eine Gruppe dar.

Die Gruppentheorie entstand im 19. Jahrhundert, als der junge Mathematiker Évariste Galois die Symmetrien der Nullstellen von Polynomen untersuchte. Dank seiner Arbeit ließ sich schließlich beweisen, dass es keine allgemeine Lösungsformel für Polynome von Grad fünf oder höher gibt. Auch in der Physik spielen Symmetriegruppen eine wichtige Rolle: Das Standardmodell der Teilchenphysik baut beispielsweise auf Gruppen auf; zudem konnte die Mathematikerin Emmy Noether zeigen, dass es zu jeder Symmetrie eines physikalischen Systems (etwa unter Zeitverschiebungen) eine Erhaltungsgröße (die Energie) gibt.

Ein Periodensystem ordnet den »prachtvollen Zoo« der Gruppen

Mitte des 20. Jahrhunderts wuchs die Anzahl an Gruppen zu einem »prachtvollen Zoo« an, wie es der Physiker Freeman Dyson ausdrückte. Man fand jede Menge neue Gruppen, so dass der Algebraiker Daniel Gorenstein von der Rutgers University beschloss, Ordnung zu schaffen. Zumindest die endlichen Gruppen (also solche, die nur endlich viele Elemente enthalten) sollten sich katalogisieren lassen. Denn Gruppen haben eine ähnliche Eigenschaft wie Moleküle oder Zahlen: Einige von ihnen lassen sich in kleinere Bestandteile zerlegen, in so genannte einfache Gruppen. Diese spielen dieselbe Rolle wie Atome in der Chemie oder Primzahlen in der Zahlentheorie.

Um das Konzept von einfachen Gruppen (die keineswegs unkompliziert sein müssen) zu veranschaulichen, kann man wieder die oben erwähnte Dreiecksgruppe untersuchen. Diese besteht aus Rotationen und Spiegelungen. Wenn man nur die Drehungen betrachtet, stellt man fest, dass diese drei Transformationen bereits eine Gruppe bilden: Es gibt ein neutrales Element und die Verknüpfung zweier Rotationen entspricht wieder einer Drehung aus der Gruppe. Man kann aber auch eine zweite Gruppe finden: Sie enthält ebenfalls das neutrale Element und eine einzige Spiegelung. Diese zwei Objekte bilden ebenfalls eine Gruppe. Und wenn man diese mit der reinen Rotationsgruppe verknüpft (jedes Element miteinander multipliziert), dann erhält man wieder die vollständige Dreiecksgruppe. Das heißt: Die Symmetriegruppe des Dreiecks lässt sich in zwei einfache Gruppen (Rotation und Spiegelung) zerlegen.

Aus den endlichen einfachen Gruppen lassen sich also alle endlichen Gruppen erzeugen. Daher träumte Gorenstein von einer Art Periodensystem, das wie in der Chemie dabei helfen würde, die Grundbausteine des Fachs zu identifizieren. Doch das stellte sich als regelrechte Mammutaufgabe heraus: Zunächst einmal mussten alle endlichen einfachen Gruppen gefunden werden – und dann musste man noch zeigen, dass die Liste vollständig ist.

Das Ergebnis dieser Bemühungen war ernüchternd: Es gibt 18 Kategorien, die unendlich viele Gruppen enthalten – und weitere 26 einzelne Gruppen, die nirgends hineinpassen. Die 18 Kategorien lassen sich in drei große Familien einteilen:

  1. Die zyklischen Gruppen: Deren Elemente entsprechen den Drehungen regelmäßiger Vielecke. Wenn die Anzahl der Ecken einer Primzahl entspricht, dann ist die Gruppe einfach.
  2. Zyklische Gruppen
  3. Die alternierenden Gruppen: Diese hängen mit so genannten Permutationsgruppen zusammen, die identische Objekte umordnen. Diese Gruppen lassen sich jedoch meist in einfachere Bestandteile, so genannte alternierende Gruppen, zerlegen: Sie enthalten nur solche Permutationen, die zwei Elemente miteinander vertauschen (Transpositionen). Alternierenden Gruppen sind einfach, wenn sie bloß eine gerade Anzahl an Transpositionen enthalten.
  4. Vertauschungen von drei Objekten
  5. Die Gruppen vom Lie-Typ: Einer der einfachsten Vertreter dieser Gruppen enthält alle Drehungen in einem dreidimensionalen Raum. Wenn dieser Raum allerdings durch die reellen Zahlen aufgebaut ist, wäre die Gruppe unendlich. Daher betrachtet man in diesem Fall einen 3-D-Raum, der aus einem endlichen Körper (also einem endlichen Zahlenraum mit gewöhnlicher Arithmetik) aufgebaut ist.

Und dann gibt es im Periodensystem endlicher einfacher Gruppen noch die 26 Einzelgänger, die sich nirgends einordnen lassen. Diese »sporadischen Gruppen« gehören nicht zu den übrigen unendlichen Familien, sondern stehen für sich allein. »Ich verstehe das nicht«, sagte John Conway in einem Youtube-Video von »Numberphile«, der bis zu seinem Tod im Jahr 2020 auf diesem Gebiet gearbeitet hatte. »Es ist einfach unglaublich.«

Die sporadischen Gruppen | Einige der sporadischen Gruppen (bunt eingefärbt) hängen zusammen. Die weißen Gruppen gehören zu den Außenseitern der Außenseiter, den so genannten Parias.

Der wohl prominenteste und größte Vertreter der Außenseiter ist das »Monster« (zwar wurde auch der Name »friendly giant« vorgeschlagen, dieser hat sich aber nie durchgesetzt). Das Monster haben Bernd Fischer und Robert Griess in den 1970er Jahren vorhergesagt, 1980 konnte Griess schließlich dessen Existenz beweisen. Die Gruppe enthält zirka 8·1053 Elemente – und tatsächlich lässt sie sich als Symmetriegruppe eines Objekts betrachten. Doch das macht es nicht unbedingt anschaulicher: Das betreffende Objekt ist 196 883-dimensional.

Monster, Baby-Monster und die Happy Family

Neben dem Monster gibt es noch das Baby-Monster (die zweitgrößte sporadische Gruppe). Alle Elemente des Baby-Monsters sind auch im Monster selbst enthalten. Das heißt nicht, dass sich das Monster in ein Produkt aus Baby-Monster und einer anderen Gruppe zerlegen lässt – schließlich sind alle besprochenen Gruppen einfach. Tatsächlich sind 18 weitere sporadische Gruppen im Monster enthalten, Fachleute nennen diese 20 Gruppen daher »Happy Family«. Die übrigen sechs sporadischen Gruppen sind die Außenseiter der Außenseiter: Sie werden daher »Pariah« genannt.

Nun mag man sich fragen, wie man überhaupt auf diese Außenseitergruppen stößt. Der französische Mathematiker Émile Mathieu (1835–1890) war der Erste, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf die seltsamen Gebilde stieß, als er die Menge von Permutationen bestimmter Objekte (so genannte symmetrische Gruppen »Sym«) untersuchte. Sym(n) enthält alle möglichen Vertauschungen von n Objekten. Die Größe der Gruppe Sym(n) (und damit die Anzahl an Vertauschungen) beträgt n!, also 1·2·3·...·(n−1)·n.

Vertauschungen von vier Objekten

Wie sich herausstellt, sticht Sym(6) aus allen anderen symmetrischen Gruppen heraus. Dafür muss man sich die möglichen Vertauschungen genauer ansehen. Angenommen, Sie haben n hintereinander aufgereihte Murmeln. Um deren Permutationen zu untersuchen, können Sie beispielsweise zunächst eine Murmel festhalten und alle übrigen n−1 Elemente miteinander vertauschen. Folglich ist Sym(n−1) immer in der symmetrischen Gruppe Sym(n) enthalten – und zwar genau n-mal (da man ja insgesamt n Murmeln einzeln festhalten kann). Das ist für alle symmetrischen Gruppen der Fall – außer bei n = 6. In diesem Fall taucht Sym(5) doppelt so häufig auf, also nicht sechs-, sondern zwölfmal.

Wenn man also zwei Reihen mit je sechs Murmeln bildet, kann die symmetrische Gruppe zeitgleich völlig unterschiedlich auf diese beiden Reihen wirken. Zum Beispiel können in der ersten Reihe bloß fünf Murmeln vertauscht werden (also bleibt eine Murmel fest an ihrem Platz), während in der zweiten Reihe alle sechs Murmeln umgeordnet werden. Die symmetrische Gruppe von n = 6 ist demnach durchaus bemerkenswert – aber sie lässt sich in andere Gruppen zerlegen und ist somit nicht einfach.

Von diesem Bild mit insgesamt zwölf Murmeln lässt sich die Mathieu-Gruppe M12 konstruieren: Sie besteht aus allen Umordnungen, die Sym(n = 6) auf zwölf Objekten durchführen kann. Wie sich herausstellt, ist M12 eine endliche, einfache Gruppe – und gehört nicht zu den alternierenden Gruppen oder den anderen 18 Familien endlicher einfacher Gruppen.

Wie Mathieu aber erkannte, hat M12 die gleichen Eigenschaften wie die symmetrische Gruppe von n = 6: Auch M12 kann gleichzeitig auf zwei Reihen mit je 12 Objekten auf völlig unterschiedliche Weise wirken. Daher lässt sich auch M12 erweitern – und zwar zu M24, den Permutationen von M12 auf 24 Objekten. M24 ist ebenfalls eine endliche einfache Gruppe und gliedert sich genauso wenig in die bestehenden 18 Familien ein. Danach ist aber Schluss: M24 wirkt nur auf eine Weise auf 24 Murmeln und lässt sich nicht so einfach erweitern wie ihre Vorgänger.

»Wir sind immer noch auf der Suche nach einer wirklich einfachen und natürlichen Konstruktion des Monsters«Richard Borcherds, Mathematiker

Um das Monster zu konstruieren, sind weitere Schritte erforderlich. Unter anderem muss man die Symmetrien des 24-dimensionalen Leech-Gitters untersuchen, das die platzsparendste Anordnung 24-dimensionaler Kugeln angibt. »Leider ist keine dieser Definitionen völlig zufriedenstellend. Im Moment scheinen alle Definitionen des Monsters sehr konstruiert«, schreibt der Mathematiker Richard Borcherds in einem Aufsatz. »Wir sind immer noch auf der Suche nach einer wirklich einfachen und natürlichen Konstruktion des Monsters.« Und auch Conway war mit der Situation unzufrieden. 2015 sagte er in einem Youtube-Video, dass er hoffe, noch vor seinem Tod herauszufinden, warum es das Monster überhaupt gibt.

Dieser Wunsch wurde ihm leider nicht erfüllt. Und das Monster wirft noch mehr Fragen auf: Wie Borcherds 1992 bewies, tauchen einige Kenngrößen (charakteristische Zahlenwerte) des Monsters in einem vollkommen anderen Bereich der Analysis auf – was sogar ein neues Forschungsgebiet eröffnet hat: die Mondschein-Theorie. Deren Name kommt von »moonshine«, was auf Englisch eine vollkommen verrückte Idee bezeichnet. Denn genau dafür hielt man anfangs diese unerwartete Verbindung.

Bisher haben die endlichen einfachen Gruppen für mehrere Überraschungen gesorgt. Wer weiß, was das Monster noch alles preisgibt, wenn wir es besser verstehen?

​​Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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