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Sex matters: Was geht, wenn er nicht steht

Erektionsstörungen nagen am männlichen Selbstwertgefühl. Das muss nicht sein, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller. Warum eine Erektion nicht nötig ist – ein Besuch beim Arzt aber schon. Eine Kolumne.
Symbole vor rotem Plüsch: Arzt, Museum der Sexualität, Schlaganfall, Antenne des Herzens
Das Museum der Sexualität ist vollgestopft mit falschen Bildern, sagt Kolumnist Carsten Müller. Eins davon: dass das Wesentliche beim Sex ein erigierter Penis ist.

»In den letzten Jahren hat sich bei mir etwas verändert. Ich habe zwar Lust auf Sex, aber meine Erektion ist kaum vorhanden. Mein Urologe hat mir ein Potenzmittel verschrieben. Das half. Meine Frau und ich konnten wieder miteinander schlafen, aber ich bekam immer öfter nach der Einnahme Sodbrennen. Jetzt frage ich mich, ob es noch andere Möglichkeiten gibt. Ich möchte nicht, dass die Sexualität in unserer Beziehung dauerhaft von einem Medikament abhängig ist. Was kann ich tun?« (Bernd*, 52 Jahre alt)

Zum Thema Erektionsstörungen habe ich eine gute Nachricht. Es gibt eine ganze Menge, was man tun kann. Manches davon beginnt im Kopf, anderes hat mit dem Körper zu tun. Fangen wir mit den Binsenweisheiten an: gesunde Ernährung, keine Zigaretten, Stress vermeiden. Vorsicht auch bei Medikamenten – manche bringen Erektionsstörungen als Nebenwirkung mit sich. Wenn jemand zu mir in die Praxis kommt und mir berichtet, dass er keine Erektion bekommen könne, schlage ich ihm als Erstes einen Besuch beim Arzt vor.

Ich weiß, dass das für viele Männer ein schwieriger Schritt ist. Aber er kann sogar Leben retten. Der Penis gilt nämlich als Antenne des Herzens. Eine Erektion kommt dann zu Stande, wenn die Schwellkörper des Penis mit Blut gefüllt sind und bleiben. Sobald die feinen Arterien, die diese Blutgefäße versorgen, nicht mehr voll durchlässig sind, lässt die Härte der Erektion nach. Das kann ein Indikator für eine Herzerkrankung sein. In einer deutsch-schweizerischen Studie mit 200 Patienten, die unter Erektionsstörungen litten, wurde bei 37,5 Prozent eine Verkalkung der Koronar-Arterien diagnostiziert. Weitere Forschungen zeigten, dass Erektionsstörungen bei Herzpatienten schon fünf bis sieben Jahre vor einem Herzinfarkt oder Schlaganfall auftraten. Der Penis ist also ein zuverlässiges Frühwarnsystem.

Erektionsstörungen können auch hormonelle Ursachen haben. Aber oft liegt's einfach am Alter. 20-Jährige haben höchst selten Erektionsprobleme. Gerade mal zwei Prozent klagen darüber. Bei Männern um die 80 sind es dagegen 80 Prozent. Weil die Bevölkerung weltweit älter wird, könnten im Jahr 2025 weltweit mehr als 300 Millionen Männer unter Erektionsstörungen leiden. Umso wichtiger, über das Thema zu sprechen.

Je früher Potenzprobleme behandelt werden, desto besser sind die Chancen, sie in den Griff zu bekommen. Aus meiner Praxis weiß ich, wie schwer das ist – und wie wichtig für die Betroffenen. Je weniger eingefahren das Angstmuster ist, umso leichter ist es zu überwinden. Wer sich dauernd mit der Sorge herumschlägt, es könnte nicht funktionieren, der wird immer frustrierter. Auch für den Partner oder die Partnerin wird es schwieriger. Je mehr Frust ein Mensch spürt, umso seltener wird er den ersten Schritt machen.

Viele Männer mit Erektionsproblemen schämen sich und warten lange, bevor sie Hilfe suchen. Bei Bernd war es anders. Als er mit seiner Frau zu mir kam, war er bereits beim Arzt gewesen. Es war klar, dass es keine urologische Ursache gab. Wir konnten also direkt in die Beratung einsteigen. Mein Tipp für Bernd und seine Frau war: Versuchen Sie zu akzeptieren, dass die Sexualität eine andere ist als noch vor ein paar Jahren. Sehen Sie die Situation, in der Sie sich gerade befinden, als Chance. Eine Chance, Sexualität neu zu definieren und neu zu entdecken.

Wozu ist eine Erektion überhaupt notwendig? Sie spielt eine Rolle bei der Penetration. Penetration wiederum spielt eine Rolle bei der Fortpflanzung. Das Thema war bei den beiden längst durch. Penetrations-Sex war nicht mehr so wichtig wie früher. Der Orgasmus dagegen schon. Und der hing in den Köpfen der beiden komplett am Thema Erektion. Dabei ist das Quatsch, aber dazu gleich mehr.

Ein Orgasmus ist auch ohne Erektion möglich

Ich finde es irrsinnig, welche Mythen von Männlichkeit an die Erektion geknüpft sind. Das Museum der Sexualität ist vollgestopft mit falschen Bildern: Der Mann steht seinen Mann. Mit einer knallharten Erektion tut er der Frau etwas Gutes. Eine Erektion ist maßgeblicher Indikator für sexuelles Verlangen. Es lasten derart viele patriarchalische Vorstellungen und Erwartungen auf den Schultern der Männer, dass ihnen eins klar scheint: Wenn's mit der Erektion nicht klappt, dann ist die Sexualität im Eimer.

Viele Männer glauben, dass der Orgasmus der Frau zumindest zum Teil vom erigierten Penis abhänge. Ich höre das immer wieder von Klienten. Dabei ist der Penis für viele Frauen weder wesentlich noch wirklich zwingend. Für die Stimulation der Klitoris braucht es ihn nicht.

Und braucht der Mann eine Erektion, um zum Orgasmus zu kommen? Nein. Es geht auch ohne. Durch orale oder manuelle Stimulation ist ein Orgasmus und sogar eine Ejakulation möglich. Auch ein schlaffer Penis empfindet sexuelle Reize. Trotz aller Aufklärung ist das vielen Menschen nicht bewusst. Dabei kann sich ein Orgasmus ohne Erektion genauso spektakulär anfühlen.

Gerade für Männer ist das Umdenken häufig schwierig. Ich verstehe das. Erektionsprobleme nagen am Selbstwertgefühl. Ähnlich wie die Menopause der Frau markieren sie im Leben eines Mannes den Zeitpunkt, an dem der beste Teil vermeintlich hinter ihm liegt. Dabei habe ich in meiner Praxis schon viele Männer erlebt, die in und nach den Wechseljahren ihren Körper neu entdeckt haben. Bewegung kann dabei helfen, sich wohl in seiner Haut zu fühlen, und so Sexualität fördern. Gezieltes Beckenbodentraining hilft der Erektion. Ausprobieren lohnt sich. Viele meiner Klienten haben nach dem Training Verbesserungen gespürt.

Sie können als Paar aber auch ohne Erektion tollen, erfüllten Sex haben. Wer sagt, dass Penetration ein Muss ist? Für Bernds Frau war übrigens schon die Information hilfreich, dass ihr Mann auch ohne Erektion durch orale oder sonstige Stimulation zum Orgasmus kommen konnte – denn es bedeutete ihr viel, ihn glücklich zu machen. Für beide ergab es auf einmal Sinn, gemeinsam neue sexuelle Aktivitäten auszuprobieren, ohne Erektion und ohne Medikamente.

Die beiden haben sich an eine neue Sexualität herangetastet. Am Anfang habe ich Körperübungen empfohlen, bei denen sie einander gar nicht an den Genitalien berühren sollten. Es ging erst einmal nur darum, Erregung und Lust wahrzunehmen. Nach wenigen Wochen berichteten beide, dass sie auf ganz andere Weise als früher schöne Momente miteinander erlebt hatten.

Und nun sind Sie dran: Drei Minuten für Ihren Beckenboden

Wissen Sie, wie Sie Ihre Beckenbodenmuskulatur aktivieren? Egal, ob Sie Mann oder Frau sind: Probieren Sie einmal aus, wie es sich anfühlt, die Muskulatur bewusst anzuspannen. Sie können das im Sitzen oder im Stehen tun. Atmen Sie tief und entspannt weiter und halten Sie die Aktivität der Muskeln für etwa 15 bis 30 Sekunden. Machen Sie drei Durchgänge. Und wenn Sie mehr wissen möchten, finden Sie hier weitere Übungen.

* Name von der Redaktion geändert

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