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In Bestform: »Niemand braucht Eiweiß-Shakes oder Proteinriegel«

Eine Extraportion Proteine nach dem Training? »Die meisten Menschen hier zu Lande nehmen genug Proteine zu sich«, sagt die Hamburger Ernährungswissenschaftlerin Anja Carlsohn. Anders im Leistungssport: Der Muskelaufbau erfordere regelmäßig proteinreiche Mahlzeiten.
Kraftsportler bereitet sich einen Proteindrink zu

Um Muskeln aufzubauen, greifen viele Sportlerinnen und Sportler nach dem Krafttraining zu Protein-Shakes. Doch Anja Carlsohn, Professorin für Ernährungswissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, hält das in der Regel für überflüssig. Für Leistungssportlerinnen und -sportler weiß sie ein besseres und natürlicheres Rezept.

»Spektrum.de«: Auf vielen süßen Riegeln steht inzwischen »High Protein«. Für wen ist so etwas denn sinnvoll?

Anja Carlsohn: Grundsätzlich braucht niemand solche Produkte. Die meisten Menschen hier zu Lande nehmen genügend Proteine zu sich, im Schnitt sogar mehr als nötig. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Die tatsächliche Zufuhr liegt je nach Bevölkerungsgruppe bei 1,2 bis 1,6 Gramm. Deshalb ergibt es meiner Meinung nach keinen Sinn, Lebensmittel damit anzureichern. In erster Linie zielen solche Produkte auf gesundheitsbewusste, sportliche Personen.

Eiweiß oder Protein?

Weil man sie erstmals aus Hühnerei isolierte, bezeichnet man Proteine oft als »Eiweiße«. Sie kommen aber in praktisch allen lebenden Organismen vor. Die Begriffe werden heute oft synonym verwendet, Fachleute ziehen jedoch den Begriff »Protein« vor. Er leitet sich vom griechischen Wort »prōteios« für »grundlegend« oder »erstrangig« ab. Der schwedische Mediziner und Chemiker Jöns Jakob Berzelius schlug diese Bezeichnung im Jahr 1838 vor. Seine These lautete, dass alle Proteine aus derselben Grundsubstanz bestehen, die Pflanzen für Tiere aufbereiten. Das erwies sich zwar als falsch, richtig ist aber, dass alle Proteine aus denselben Bausteinen bestehen: den Aminosäuren.

Aber brauchen Sportlerinnen und Sportler denn nicht mehr Protein?

Natürlich spielt Protein beim Muskelauf- und -abbau eine Rolle. Schließlich besteht unsere Muskulatur zu rund 20 Prozent aus Proteinen. Sie setzt sich aus denselben Bausteinen zusammen, die auch in unserer Nahrung enthalten sind: Aminosäuren. Je mehr sie beansprucht wird, desto mehr Aminosäuren werden benötigt. Der Eiweißbedarf von Sportlerinnen und Sportlern ist im Vergleich zu nicht aktiven Menschen also schon erhöht. Er liegt zwischen 1,2 und 1,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag, das heißt immer noch in dem Bereich, in dem wir es über eine normale Ernährung aufnehmen.

Ab welchem Ausmaß an Sport braucht man denn tatsächlich mehr Protein?

Bei weniger als fünf Stunden Sport pro Woche braucht man sich über einen Mehrbedarf noch keine Sorgen zu machen. Wer leistungsorientiert Sport treibt, sich also mit individuellen Zielen sportlich weiterentwickeln möchte und sein Trainingspensum stetig erhöht, sollte auf eine ausreichende Versorgung achten. Das gilt aber nicht nur für das Eiweiß, sondern auch für Kohlenhydrate sowie die Gesamtenergie.

Ist es wichtig, wann man Proteine zu sich nimmt? Manche Fachleute sagen, wer Kraftsport betreibt, sollte alle zwei bis drei Stunden etwas Eiweiß zu sich nehmen.

Wenn man Muskeln aufbauen will, ist es tatsächlich am besten, wenn man das Eiweiß über den Tag verteilt aufnimmt. Anstatt sich abends nach dem Training hohe Dosen zuzuführen, sollte besser jede Mahlzeit eine oder mehrere gute Proteinquellen enthalten.

Warum?

Man will vermeiden, dass der Körper anfängt, körpereigenes Protein abzubauen. Besonders in der Muskelaufbauphase ist es deshalb wichtig, regelmäßig proteinreiche Mahlzeiten zu sich zu nehmen, um solche katabolen Fenster zu vermeiden. Das heißt aber nicht, dass man auf die Minute genau alle zwei Stunden Quark essen muss.

Heißt das, es ist mehr oder weniger egal, wann ich esse?

Anja Carlsohn | Die Ernährungswissenschaftlerin ist Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und Sprecherin der Arbeitsgruppe Sporternährung bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Das legt der derzeitige Forschungsstand nahe. Selbstverständlich kommt es immer auf die Verträglichkeit an. Nicht jedem tut es beispielsweise gut, direkt nach dem Sport eiweißreich zu essen. Dann muss man das auch nicht tun. Bei Ausdauersportlerinnen und -sportlern ist das etwas anders. Machen sie beim Sport ihre Kohlenhydratspeicher leer, sollten sie diese binnen zwei bis sechs Stunden wieder auffüllen, denn dann ist die Synthese des Speicherstoffs Glykogen besonders effektiv. Im Kraftsport gibt es kein so enges Zeitfenster. Um effektiv Muskeln aufzubauen, gilt es lediglich, 24 Stunden um das Training herum etwas Eiweiß aufzunehmen. Es ist also nicht notwendig, den Protein-Shake noch vor dem Duschen hinunterzuschütten.

»Es gibt genügend natürliche Lebensmittel, die von sich aus proteinreich sind«

Aber ist es nicht besser, vor oder gar während des Trainings Proteine zu essen, um ja nicht ins katabole Fenster zu rutschen?

Theoretisch ja. Wenn Muskelreiz und Aminosäuren gleichzeitig vorhanden sind, denkt man, der Muskelaufbau müsse besonders effektiv verlaufen. Studien zufolge ist dem aber nicht so. Zwischen Menschen, die vor, während oder nach dem Training Eiweiß zu sich genommen hatten, zeigte sich kein Unterschied im Muskelwachstum. Nimmt man täglich fünf bis sechs eiweißreiche Mahlzeiten zu sich, hat man genügend Aminosäuren im Blut.

Weil Sie eben von Protein-Shakes sprachen: Auch Kraftsportler brauchen so etwas nicht, oder?

Nein. Es gibt genügend natürliche Lebensmittel, die von sich aus proteinreich sind. Indem man wenige, klassische Lebensmittel miteinander kombiniert – in meinen Vorlesungen nenne ich als Beispiel immer Pellkartoffeln mit Quark –, lassen sich proteinreiche Mahlzeiten von hoher biologischer Wertigkeit herstellen. Für ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung habe ich ein paar solcher Beispiele zusammengestellt und ausgerechnet, wie viel Gramm Protein in einer Portion jeweils enthalten ist. Das sind einfache Snacks, schnell zuzubereiten und überhaupt nicht teuer. Selbstverständlich gibt es auch vegane und laktosefreie Varianten. Es braucht also niemand Eiweiß-Shakes oder Protein-Riegel.

Von Sportlerin zu Sportlern

Anja Carlsohn plädiert für natürliche Lebensmittel. Künstlich angereicherte Produkte oder Nahrungsergänzungsmittel seien in den wenigsten Fällen sinnvoll, sagt die Ernährungswissenschaftlerin. Sie selbst war früher Marathonläuferin in der Nationalmannschaft und auch im Berglauf sehr aktiv. Seit ihre Kinder zur Welt kamen, sind ihre Strecken etwas kürzer geworden, sie läuft aber weiterhin gerne.

Milchprodukte wie Jogurt und Quark enthalten von sich aus schon viel Protein, mitunter sogar mehr als teure High-Protein-Varianten, wie eine Stichprobe des ZDF zeigt.

Genau. Das Molkenprotein ist sehr hochwertig. Wenn ich dann zu meinem Magerquark oder Jogurt noch Früchte hinzufüge – sprich: Kohlenhydrate –, steigt der Insulinspiegel. Das regt das Muskelwachstum an. Das gilt natürlich nur, sofern ich entsprechend trainiere. Wenn ich auf dem Sofa sitze und Fruchtjogurt esse, werde ich nicht zum Bodybuilder.

Das ist ja interessant. Viele Kraftsportler versuchen, Kohlenhydrate möglichst komplett zu vermeiden.

Ja, leider. Viele wissen nicht, dass Insulin eines der stärksten anabolen Hormone ist. Darum ist die Kombination von Proteinen und Kohlenhydraten empfehlenswert: belegte Brote beispielsweise oder Müsli mit Milch.

Also raten Sie Sportlern von einer Ernährung mit wenig Kohlenhydraten ab?

Grundsätzlich ja. Man muss natürlich definieren, was man unter »Low Carb« versteht. Lasse ich nur Süßigkeiten oder süße Getränke weg, ist das sicherlich nicht schlecht. Das sind ohnehin nur leere Kalorien, darum empfehlen wir sie niemandem, auch Sportlern nicht. Mache ich aber eine streng ketogene Diät, lasse also praktisch alle Kohlenhydrate weg, auch die in Obst und Gemüse, fehlen mir Vitamine, Ballast- und Mineralstoffe. Diesen Bedarf anderweitig zu decken, ist schwierig.

Und andersherum: Kann zu viel Protein auch schaden?

Mir sind keine Studien bekannt, die zeigen, dass der Genuss von High-Protein-Produkten ungesund oder gar schädlich ist. Eine Zeit lang hieß es, mehr als zwei Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht könnten den Nieren schaden, die für den Abbau zuständig sind. Auch von Seiten der DGE galt diese Menge deshalb bis 2017 als Obergrenze. Das wurde aber inzwischen revidiert. Ein Zuviel an Protein schadet offenbar nur Menschen, die bereits Vorerkrankungen der Nieren haben. Für gesunde Menschen scheint das kein Problem zu sein. Ein Nachteil von High-Protein-Produkten könnte ihr hoher Sättigungswert sein. Fühlt man sich damit schon satt, isst man womöglich weniger Obst und Gemüse und es fehlen wiederum Vitamine und Mineralien. Dazu gibt es aber noch keine aussagekräftigen Studien.

Wie lässt sich Muskelkater vermeiden? Wie viel sollten Sportler trinken? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die Biochemikerin Annika Röcker in ihrer Kolumne »In Bestform«. Mit Expertinnen und Experten aus der Sportmedizin diskutiert sie, was beim Sport im Körper vorgeht und wie ein gesundes Training aussieht.

Viele High-Protein-Produkte sollen nach Erdbeere, Vanille oder Schokolade schmecken und sind ziemlich süß. Sind das Dickmacher?

Es gilt dasselbe wie für alle anderen Lebensmittel auch: Nimmt man damit mehr Kalorien auf, als man verbrennt, nimmt man zu. Da ist es egal, ob die Energie aus Proteinen, Kohlenhydraten oder Fetten stammt. Ein Proteinriegel ist hinsichtlich des Energiegehalts oft nicht besser als ein gewöhnlicher Schokoriegel. Ließe man sich nicht durch die Werbung beeinflussen, würde einen wahrscheinlich der gesunde Menschenverstand davon abhalten, so etwas zu kaufen. Bei vielen dieser künstlichen, zusammengemixten Produkte weiß man gar nicht mehr, was man überhaupt isst und wo es herkommt.

Am Ende ist es also vor allem Geldmacherei?

Richtig, aber das trifft ja auf fast alle Modeprodukte zu. Wir brauchen sie nicht, trotzdem sprechen sie uns an und wecken Bedürfnisse, beispielsweise nach Bequemlichkeit.

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