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Star-Bugs - die kleine-Tiere-Kolumne: Das extreme Leben der Seehundläuse

Um als Insekt im Meer zu überleben, muss man hart im Nehmen sein und sich extrem anpassen. Bei Seehundläusen geht das so weit, dass sie an Land nicht einmal laufen könnten.
Ein mikroskopisches Bild zeigt eine bunte Nahaufnahme einer Seehundlaus, die sich an einem blauen Haar festhält. Die Struktur des Tieres ist in leuchtenden Grün- und Orangetönen dargestellt, während das Haar in einem kräftigen Blau erscheint. Der Hintergrund ist schwarz, was die Details des Insekts hervorhebt.
Die Seehundlaus verfügt über sechs Krallen, die einem Karabiner ähneln und mit denen sie sich an das Fell einer Robbe heften kann.
Insekten und andere Wirbellose finden sich überall um uns herum, doch bis auf Schmetterlinge, Bienen und wenige andere Gruppen genießen sie geringe bis keine Achtung oder gar Sympathien. Dabei ist die Welt der Sechsbeiner und Co mehr als faszinierend. Ein genauerer Blick auf diese Welt der kleinen Tiere in unserer Natur lohnt also. Wir stellen regelmäßig besondere Stars aus diesem Universum vor.

»Wenn die Läuse vom Seehund runterfallen, sind sie so gut wie tot.« Mit diesem Satz fasst Anika Preuss das Problem zusammen, für das die Seehundlaus beziehungsweise die Evolution eine Lösung finden musste. Denn die winzigen Insekten ernähren sich ausschließlich vom Blut von Seehunden und anderen Hundsrobben (Phocidae).

Der Ritt auf einer Robbe dürfte jedoch alles andere als komfortabel sein. Ein Seehund (Phoca vitulina) ist hervorragend an die Jagd unter Wasser angepasst: Sein Körper ist geformt wie ein Torpedo. Und er erreicht beim Schwimmen Geschwindigkeiten, für die viele Menschen auf dem Fahrrad schon ordentlich strampeln müssen: bis zu 35 Kilometer pro Stunde. Dabei entstehen zwischen Wasser und der Haut der Tiere erhebliche Kräfte. Eigentlich müsste das Wasser die Läuse fortreißen.

Damit nicht genug: Seehunde verbringen gerade einmal 17 Prozent ihrer Lebenszeit auf dem Trockenen. Den Rest verwenden sie darauf, die knapp fünf Kilogramm Fisch zu jagen, die sie täglich verspeisen. Bis zu 30 Minuten lang bleiben sie unter Wasser. Zuweilen verbringen die Robben Wochen auf See. Allesamt erschwerte Bedingungen.

Anika Preuss hat die Tiere für ihre Doktorarbeit an der Abteilung für Biomechanik und Morphologie der Universität Kiel untersucht. Die Biologin arbeitet für ihre Forschung mit einem interdisziplinären Team zusammen. Die Arbeitsgruppe hat sich angesehen, wie sich die Seehundlaus von verwandten Tierläusen (Anoplura) an Land – vor allem von den Kopfläusen (Pediculus humanus capitis) des Menschen – unterscheiden.

Die Läuse von den Seehunden sammelten Fachleute vom Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung in Büsum in der Nord- und der Ostsee. Kopfläuse bekam die Forscherin von Bekannten mit Kindern. Drei wesentliche Unterschiede hat Anika Preuss entdeckt: die Haltezangen an den Füßen, die Atmung und die Behaarung. »Das sind extreme Anpassungen, um auf dem Wirt und in dieser Umgebung überleben zu können«, sagt sie.

Von Laus zu Laus

Die Unterschiede fangen schon bei der Größe an. Im Gegensatz zu anderen parasitischen Läusen ist die Seehundlaus eher gedrungen. Mit zwei Millimeter Länge ist sie ein Drittel kleiner als die Kopflaus, die am Menschen saugt. Der Körper der Seehundlaus ist zudem von kleinen Borsten bedeckt. Ihre Körperform mit den Haaren müssen den Naturwissenschaftler Ignaz von Olfers im Jahr 1816 an einen Igel erinnert haben, denn darauf zielt der wissenschaftliche Name Echinophthirius horridus ab. »Echino« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Igel, das altgriechische »phtheir« steht für Laus.

Die erste wichtige Anpassung: Die sechs Füße sind zu Zangen umgebaut und bestens an Seehundhaare angepasst; das hat das Forschungsteam um Anika Preuss im Fachmagazin »Communications Biology« beschrieben. Diese Werkzeuge braucht die Laus, denn die Haare der Beutegreifer sind nicht rund oder oval wie bei Landsäugetieren, sondern flach, mehr als viermal so breit wie hoch. Und sie sind außergewöhnlich glatt – der Seehund muss Energie sparen und die Reibung reduzieren.

Über Zangen verfügen grundsätzlich auch die Läuse an Land. Die Seehundlaus aber hat in ihren Zangen elastische Polster. Die sind klebrig und haften deshalb besser an den Seehundhaaren. Gleichzeitig verhindern sie vermutlich, dass die Läuse die Seehundhaare einfach durchknipsen. Denn die Läuse sind eigentlich zu stark für die Haare. Als Anika Preuss versucht hat, die Läuse von den Seehundhaaren zu lösen, hat sie die Haare einige Male zerrissen, ehe die Insekten losließen.

Messungen haben ergeben, dass die Laus in der Lage ist, im Mittel das 4500-Fache ihres Körpergewichts zu halten. In der Spitze geht das sogar bis aufs 18 000-Fache. Zu allem Überfluss muss die Laus das mit Muskelkraft schaffen. »Es ist wahrscheinlich wirklich ein aktiver Prozess«, so Preuss. Bei Vögeln zum Beispiel ist es genau andersherum: Wenn sie auf einem Ast sitzen, sind die Muskeln in ihren Füßen oder Klauen entspannt. Das Öffnen kostet die Vögel Kraft.

Anpassungen ans Taucherleben

Auch die zweite wichtige Anpassung hilft der Laus dabei, mit der Robbe mitzuhalten. Die langen Tauchgänge bis in große Tiefen erfordern spezielle Strategien bei der Atmung. Auch da haben die Läuse großzügige Reserven. Sie können bis zu 24 Stunden unter Wasser bleiben. Trotzdem bevorzugen die Seehundläuse Stellen am Körper der Robben, die die Tiere häufig über Wasser halten: den Kopf und die Vorderflipper.

Lange dachte man, die Haare der Läuse hielten etwas Luft fest, so dass das Insekt unter Wasser Luft aus dieser Blase nachtanken kann. Preuss und ihr Team haben das jetzt widerlegt. Die Laus wird unter Wasser komplett nass. Die Untersuchungen zeigten, dass die Laus Sauerstoff in ihrem weit verzweigten Tracheensystem speichert. Insekten haben keine Lungen, sondern feine Röhren mit mehreren Öffnungen nach außen. Zudem ist der Panzer von Echinophthirius horridus weicher und weniger dicht als bei Läusen an Land; das dürfte es Echinophthirius horridus erleichtern, unter Wasser durch die Haut Sauerstoff aufzunehmen. Und schließlich speichert sie Sauerstoff wahrscheinlich in so genannten Atmungspigmenten. Das sind Proteine wie der Blutfarbstoff Hämoglobin, die Eisen oder Kupfer enthalten und Sauerstoff binden.

Um Wasser aus den Tracheen herauszuhalten, haben die Seehundläuse außerdem Stopfen, mit denen sie die Öffnungen von innen verschließen können – eine einmalige Konstruktion; zumindest haben Forscher bislang noch nichts Vergleichbares bei den landlebenden Läusen gefunden. Dafür bei einer anderen Art aus dem Meer: Ein argentinisches Team hat gerade einen ganz ähnlichen Mechanismus bei Lepidophthirus macrorhini entdeckt, wie es in »Communications Biology« schreibt. Diese Robbenlaus hat sich auf den Südlichen Seeelefanten (Mirounga leonina) spezialisiert.

Borsten wie Haischuppen

Auch wenn sie kein Luftpolster festhalten – die Haare der Läuse haben trotzdem eine wichtige Funktion. Sie verkleinern den Strömungswiderstand unter Wasser und damit die Kraft, die die Seehundlaus braucht, um sich während der Tauchgänge festzuhalten. Das haben Anika Preuss und ihr Team mit Computersimulationen bestätigt, wie sie im Fachmagazin »Advanced Theory and Simulations« schreiben. Die Borsten stehen in einem bestimmten Winkel vom Körper der Läuse ab, so dass sich daran Verwirbelungen bilden, die den Strömungswiderstand reduzieren. »Unter dem Mikroskop sehen diese Borsten aus wie die Schuppen von Haien«, beschreibt Preuss. Auch die Strukturen auf der Haut dieser Fische reduzieren den Wasserwiderstand erheblich.

Für die Biologin hat sich das Bild der Robbenläuse gewandelt: »Am Anfang fand ich sie ziemlich widerlich«, gesteht sie. Bis dahin hatte sie sich mit Bakterien und Libellen beschäftigt. Der Blick durchs Mikroskop hat ihre Meinung geändert: »Inzwischen finde ich sie sogar fast niedlich, zum Beispiel wenn sie laufen, sieht das total faszinierend und toll aus.«

Mit ihrer anfänglichen Reaktion war die Biologin in bester Gesellschaft: »Parasiten haben generell einen schlechten Ruf«, sagt Markus Engstler. Der Parasitologe leitet den Lehrstuhl für Zell- und Entwicklungsbiologie an der Universität Würzburg. »Das kommt von den vielen Horrorfilmen, allen voran ›Alien‹.« Fast jedes Filmmonster, das je kreiert wurde, habe einen Parasiten als Vorbild.

Parasiten sind wichtig für den Naturhaushalt

Dabei ist deren Rolle kaum zu überschätzen. »Ohne Parasiten würden die Ökosysteme zusammenbrechen«, sagt Engstler. Die Parasiten spielen also eine große Rolle für das ökologische Gleichgewicht. Fehlen sie, können sich einige Arten stark vermehren, die Bestände anderer Spezies dagegen einbrechen.

»50 Prozent aller Arten sind Parasiten«, erzählt Markus Engstler. »Das ist eine gigantische, für uns unsichtbarer Macht.« Nur über die wenigsten ist allerdings viel bekannt. 95 Prozent der Parasitenarten sind noch nicht einmal wissenschaftlich beschrieben und benannt, schätzt der Fachmann.

Wie ein Karabinerhaken | Die Kralle der Seehundlaus kann sich am Fell der Robbe festklammern und wieder lösen, ähnlich einem Karabinerhaken. An der Innenseite befinden sich zudem weiche, polsterartige Strukturen. Dieses System funktioniert effizient im Meer und bei variablen Haardurchmessern. Es kann daher als Vorbild für die innovative Entwicklung von Unterwassergreifern dienen.

Das Problem ist alt, könnte aber aktuell große Folgen haben. Viele Wissenschaftler nehmen an, dass sich manche Parasiten im Zuge des Klimawandels ausbreiten werden. Doch um das wirklich beurteilen zu können, fehlten Vergleichsdaten aus der Vergangenheit, so Engstler. »Wir brauchen eine Bestandsaufnahme, und wir müssen Voraussagen möglich machen.« Der Klimawandel werde die Parasitenanfälligkeit der Ökosysteme verändern. »Entweder ist der Wirt anfällig oder der Parasit, einer von beiden wird es sein.« Die Folgen für die Lebensräume seien mit dem heutigen Wissen nur schwer abzuschätzen.

Seehundläuse sind unbekannte Wesen

Auch bei den Seehundläusen sind noch viele Fragen offen. Sie verbringen wirklich ihr ganzes Leben auf den Robben; ohne deren Blut sterben die Insekten nach zwei Wochen. Die Läuse paaren sich auf den Robben, die Weibchen kleben ihre Nissen an die Haare. Ob es auch dabei spezielle Anpassungen gibt, das will Anika Preuss noch untersuchen. Schließlich müssen die Eier zuverlässig an den glatten Haaren haften. Und unter Wasser überleben.

Es gibt bloß eine Situation, die die Läuse zwingt, ihre Robbe zu verlassen: wenn ihr Wirt stirbt. Dann brauchen sie Glück. Die Robbe muss an Land das Zeitliche segnen, sonst ertrinkt die Laus, und es muss eine andere Robbe in der Nähe sein. Und zwar in direkter Nähe. Wie beim Menschen gelangen die Läuse bei den Robben nur von einem Tier aufs andere, wenn sie direkten Körperkontakt haben, etwa wenn die Weibchen ihre Jungen säugen. Denn die Beine der Seehundläuse sind so sehr auf Haare spezialisiert, dass sie nicht einmal auf Sand vom Fleck kämen.

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