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Warkus' Welt: Fahne oder Flagge?

Haben Sie auch pünktlich zur Fußball-WM Ihre Deutschlandfahne vors Haus gehängt? Oder vielleicht eher Ihre Deutschlandflagge? Unser Kolumnist Matthias Warkus erklärt den Unterschied.
Fußballfans mit Deutschlandflaggen

Man kann davon halten, was man will: Es ist mal wieder Fußball-WM und Deutschland hängt voller schwarzrotgoldener Flaggen. Oder Fahnen? Eine Google-Suche nach »WM Fahnen« wirft jedenfalls viel mehr Treffer aus als eine Suche nach »WM Flaggen«. Aber ist beides nicht ungefähr dasselbe?

Fachsprachlich gibt es tatsächlich einen Unterschied: Fahnen sind Einzelstücke. Ein traditioneller Gesangsverein, eine Karnevalsgarde oder ein Bataillon der Bundeswehr hat eine ganz individuelle Fahne, die für die jeweilige »Einheit« steht und die sorgsam, manchmal über Jahrhunderte, gehütet wird. Flaggen hingegen sind Massenerzeugnisse. Wenn sie verschlissen sind, werden sie ausgewechselt. Einzelne Flaggen stehen deshalb für Deutschland, weil das, was allen Flaggen gemeinsam ist (Farben, Seitenverhältnis, und so weiter, wie in der »Anordnung über die deutschen Flaggen« beschrieben) – sozusagen das Muster der Flagge –, für Deutschland steht.

Sowohl Fahnen als auch Flaggen sind Symbole – sie bezeichnen etwas, weil man sich darauf geeinigt hat, dass sie es bezeichnen sollen. Der Unterschied dessen, was an Fahne und Flagge nun genau das Symbol ist, taucht auch im philosophischen Denken immer wieder auf. Man spricht (mit einer Formulierung, die auf Charles S. Peirce zurückgeht, um den es in dieser Kolumne schon einmal an anderer Stelle ging) von dem Unterschied zwischen »Type« (Typ) und »Token« (Marke, Merkzeichen).

Type und Token

Tokens sind Exemplare (oder »Replikate«) eines Type – so wie so ziemlich jede Deutschlandflagge, die jemand zur WM aus dem Fenster hängt, ein Exemplar des Type ist, der in der Flaggenanordnung definiert ist. Wie wir eben gesehen haben, ist die Bedeutung von Flaggen auf der Type-Ebene angesiedelt: Jedes Einzelne dieser rechteckigen Stoffobjekte bedeutet Deutschland. Fahnen hingegen haben ihre Bedeutung auf der Token-Ebene: Nur das einzelne Unikat bedeutet den MGV Concordia 1867 – deswegen ist es auch so wertvoll und wird im Vereinsheim hinter Glas konserviert. Weil die Bedeutung bei der deutschen Flagge eben am Muster hängt und nicht am konkreten Gegenstand, kann man Deutschland nicht nur mit richtigen Flaggen, sondern auch mit dreifarbiger Schminke symbolisieren – oder eben mit dreifarbig eingefärbten Topfpflanzen, Außenspiegelüberzügen und anderen Geschmacksverirrungen.

Mit Hilfe der Unterscheidung von Type und Token lassen sich auch viele andere ähnliche Unterschiede auf den Punkt bringen. Wir können damit zum Beispiel beschreiben, welche verschiedenen Bedeutungen das Wort »Buchstabe« in der Alltagssprache haben kann. Wenn wir sagen, dass in dem Wort »monoton« ein Buchstabe dreimal vorkommt, dann meinen wir nicht, dass genau dasselbe Gebilde aus Tinte, Druckerschwärze oder Pixeln an drei verschiedenen Stellen auftaucht, sondern dass drei Exemplare desselben Type vorkommen. Wenn wir aber sagen, dass das Wort »monoton« sieben Buchstaben hat, meinen wir, dass es mit sieben Buchstaben-Tokens geschrieben wird.

Die Bedeutung von Flaggen ist auf der Type-Ebene angesiedelt, die von Fahnen auf der Token-Ebene

Auch die beliebte Unterscheidung aus dem Deutschunterricht zwischen »das Gleiche« und »dasselbe« lässt sich damit erklären: »Das Gleiche« heißt, dass zwei oder mehrere Token vom selben Type sind, während »dasselbe« bedeutet, dass ein Gegenstand (ob Type oder Token) mehrere Male angesprochen wird. Bekanntlich können zwei Personen nur mit Mühe auf demselben Stuhl sitzen, aber problemlos auf dem gleichen Stuhl – wobei die beiden Stühle (Token) gleich sind, weil sie zwei Stühle desselben Modells (Type) sind.

Die systematische Bearbeitung dieser Art von Unterschied nicht nur in Bezug auf Alltagsgegenstände, sondern auch im Gegenstandsbereich der Mathematik und der Logik durch Philosophen wie Charles Peirce, Gottlob Frege oder Bertrand Russell hat übrigens entscheidend zur Entwicklung der theoretischen Informatik beigetragen. Es ist daher auch kein Zufall, dass quasi jede Person, die irgendetwas mit Computerprogrammierung zu tun hat, den Unterschied von Type und Token beherrscht – nur, dass in der IT normalerweise eher von Klassen und Objekten geredet wird. (Statt: »Ein Token ist ein Replikat eines Type« sagt man: »Ein Objekt ist eine Instanz einer Klasse«.)

Wir sehen hier einmal mehr: Die große Leistung der Philosophie (zumindest der theoretischen) besteht darin, uns Vokabeln zu liefern, mit denen wir über verschiedene Lebensbereiche hinweg Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausdrücken können, die alltagssprachlich schwer zu fassen sind – und sei es bei so profanen Dingen wie Fahnen und Flaggen.

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