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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Das Fahrstuhl-Paradoxon: Deshalb wartet man so lange

Es ist wie verhext: Immer wenn man den Aufzug nehmen möchte, fährt die Kabine in die falsche Richtung. Warum das so ist, erklärt die Mathematik.
Fahrstuhl

Wenn Sie schon einmal längere Zeit in einem hohen Gebäude verbracht haben – sei es, weil Sie darin gewohnt oder gearbeitet haben –, dann kennen Sie sicher dieses Gefühl: Die Fahrstühle scheinen sich gegen Sie verschworen zu haben, denn die ankommenden Kabinen fahren immer in die falsche Richtung. Möchten Sie nach unten, kommt ein hinauffahrender Aufzug und umgekehrt. Und mit diesem Eindruck stehen Sie nicht allein da.

Das Phänomen fiel bereits Mitte der 1950er Jahre dem berühmten Physiker George Gamow und seinem Kollegen Marvin Stern auf. Gamow, der unter anderem bahnbrechende Arbeiten zur Theorie der Radioaktivität veröffentlicht hat, arbeitete im Sommer des Jahres 1956 als Berater bei der Firma Convair in San Diego, Kalifornien. Das Unternehmen erlangte in der Entwicklung und Herstellung von Militärflugzeugen und Weltraumtechnik weltweite Bedeutung.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Eine heimliche Fahrstuhlfabrik

Gamow erhielt ein Büro in der ersten Etage des sechsstöckigen Gebäudes der Firma, sein Freund und geschätzter Kollege Stern dagegen arbeitete in der fünften Etage. Während die zwei Forscher an als geheim klassifizierten Projekten arbeiteten, tauschten sie sich häufig aus und nutzten daher regelmäßig den Aufzug, um vom Büro des einen in das des anderen zu gelangen.

Irgendwann fiel Gamow auf, dass, wenn er an den Fahrstuhl herantrat und den Knopf drückte, die erste ankommende Kabine in der Regel immer auf dem Weg nach unten war – und er daher erst warten musste, bis sie im Erdgeschoss wieder die Richtung wechselte. Diese Tatsache schien ihn so stark zu beschäftigen, dass er irgendwann begann, darüber Buch zu führen. Wie sich herausstellte, fuhr der Fahrstuhl in fünf von sechs Fällen nach unten, wenn er den Knopf drückte, und nur in einem von sechs Malen in die gewünschte Richtung, nämlich aufwärts.

»Es ist, als würde man auf dem Dach des Gebäudes ständig neue Fahrstühle erzeugen, um sie alle nach unten zu schicken und dort wieder auseinanderzubauen«, scherzte Gamow, als er Stern von seiner Beobachtung erzählte. Da Stern durch und durch Wissenschaftler war, begann er ebenfalls aufzuzeichnen, in welche Richtung die Fahrstühle fuhren, wenn er Gamow besuchen wollte. Und auch er musste feststellen, dass die Aufzüge wesentlich häufiger in die »falsche« Richtung unterwegs waren: In fünf von sechs Fällen war die Kabine auf dem Weg nach oben, wenn er nach unten fahren wollte. Stern versicherte daher, es müsse genau andersherum sein: Convair produziere die Fahrstühle im Keller, nur um sie auf dem Dach mit einer ihrer Maschinen wegzufliegen – daher seien alle Kabinen stets nach oben unterwegs.

Murphy's Law ist ausnahmsweise mal nicht schuld

Nachdem die beiden Physiker den Verdacht ausgeräumt hatten, dass das Unternehmen heimlich in dem Gebäude Fahrstühle produziert und wieder entfernt, sahen sie sich die Mathematik des Problems genauer an – und kamen mit einer einleuchtenden Erklärung für das seltsame Phänomen auf. Entgegen der verbreiteten Meinung handelt es sich hierbei nämlich nicht um »Murphy's Law« (zumindest nicht nur), wonach es einem nur so vorkommt, als fahre der Aufzug immer in die falsche Richtung, weil diese Fälle eher im Gedächtnis bleiben. Nein, es ist tatsächlich so, dass die Fahrstühle häufiger in die entgegengesetzte Richtung fahren, wie Gamows und Sterns Statistiken belegen.

Wenn man sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes befindet, dann kommen alle Aufzüge zwangsläufig von unten und fahren daraufhin wieder hinab. Wenn man davon ausgeht, dass die Kabine nicht im obersten Stockwerk verweilt, sondern direkt umkehrt, dann ergibt sich in der vorletzten Etage folgendes Bild: Eine Kabine fährt hoch und kurz darauf wieder hinunter. Das Zeitintervall zwischen einer hinauf- und einer hinabfahrenden Kabine ist also extrem kurz. Wenn man nun zu einem zufälligen Zeitpunkt den Aufzug ruft, ist die Wahrscheinlichkeit höher, zuerst eine aufsteigende Kabine zu erwischen. Wenn man jedoch an dem Aufzug verweilt, ohne einzusteigen, und über Stunden oder womöglich Tage Protokoll über alle Fahrten führt, dann wird man natürlich feststellen, dass im Mittel genauso viele Kabinen nach oben wie nach unten fahren.

Gleiches gilt im umgekehrten Fall für niedrige Stockwerke. Falls ein Gebäude keinen Keller hat, kommt eine Kabine stets von oben im Erdgeschoss an und setzt anschließend ihre Fahrt nach oben fort. Daher ist das Zeitintervall (falls die Kabine nicht im Erdgeschoss verweilt) im ersten Stock zwischen einem hinabfahrenden und einem aufsteigendem Aufzug sehr klein. Aus diesem Grund ist die Wahrscheinlichkeit höher, zuerst einem nach unten fahrenden Aufzug zu begegnen.

Skyline in Frankfurt | Das MainTor-Gelände mit dem WINX-Tower (mit den beleuchteten Zacken oben) in Frankfurt am Main, von Südosten gesehen (Februar 2021).

Ein extrem langsamer Aufzug in Frankfurts Skyline

Um das Ganze besser zu verstehen, kann man sich ein größeres Gebäude als Beispiel nehmen. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten im relativ neuen WINX-Tower in Frankfurt, einem 30-stöckigen Hochhaus am Ufer des Main. Angenommen, es gäbe dort nur einen extrem langsamen Aufzug, der an jedem Stockwerk hält und eine Minute pro Etage braucht. Damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pünktlich in den jeweiligen Etagen erscheinen, hat man einen Fahrplan erstellt, mit den Abfahrtszeiten in den jeweiligen Richtungen:

Wenn Sie also im ersten Stock arbeiten und noch nichts von diesem Fahrplan wissen und deshalb zu einem beliebigen Zeitpunkt an den Fahrstuhl treten, dann wird die erste Kabine, die Ihnen begegnet, nach unten fahren – es sei denn, Sie erscheinen genau zur vollen Stunde oder eine Minute danach am Fahrstuhl. In 29 von 30 Fällen wird der Aufzug also zuerst nach unten fahren. Ähnlich verhält es sich mit Ihren Kollegen im 29. Stockwerk.

Visualisierung des Fahrstuhl-Paradoxes

Möchte man realistischere Szenarien untersuchen – wenn ein Gebäude etwa mehrere Fahrstühle hat oder man berücksichtigt, dass Personen in niedrigen Geschossen vermutlich auch mal die Treppe nehmen und daher Aufzüge in diesen Stockwerken seltener halten –, werden die dazugehörigen Berechnungen deutlich komplizierter. Dennoch lässt sich auch in diesen Fällen die bereits beobachtete Tendenz feststellen: Es scheint, als würden sich die Fahrstühle gegen uns verschwören und stets zuerst in die falsche Richtung fahren. Wenn Sie also wieder einmal vor einem Aufzug stehen und sich darüber ärgern, länger warten zu müssen, wissen Sie wenigstens, dass sich keine höhere Macht gegen Sie verschworen hat – sondern einfach nur Mathematik dahintersteckt.

Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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