Vorsicht, Denkfalle!: Ich weiß es noch genau! – Wirklich?

Der englische Psychologe Frederic Bartlett (1886–1969) sagte einmal: »Remembering is for doing.« Zu Deutsch: »Wir erinnern uns, um (besser) zu handeln.« Damit drückte der Gedächtnisforscher aus, dass Erinnerungen verblüffend flexibel und beeinflussbar sind. Sie stellen keine Abbilder des Erlebten, sondern Konstruktionen dar, in die viele Befindlichkeiten, Urteile und Motive aus dem Hier und Jetzt einfließen.
Vor allem die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus zeigte in Studien, wie leicht sich Fehler ins Gedächtnis von Menschen einschleichen. Einmal präsentierte sie Probanden Bilder von Verkehrsunfällen mit harmlosen Blechschäden. Später sollten die Teilnehmer den Hergang in eigenen Worten wiedergeben. Allein die Frage »Wie viele Personen waren am Crash beteiligt?« ließ viele glauben, es habe sich um eine wüste Karambolage gehandelt.
Der Mann im blauen Hemd – eine eingepflanzte Erinnerung
Erstaunlich schnell schmücken wir künstliche Erinnerungen mit lebhaften Details aus. So erzählte Loftus einem jungen Mann verschiedene Begebenheiten aus seiner Kindheit, die ihr zuvor seine Eltern berichtet hatten. Der Proband sollte notieren, was ihm selbst dazu einfiel. Eine Begebenheit hatte Loftus jedoch frei erfunden: Die Eltern hätten den damals Fünfjährigen angeblich in einem Einkaufszentrum verloren. Am Ende habe ein älterer Herr den Jungen zurückgebracht. Der Clou: Der Sohn glaubte bald selbst, sich genau an jenen Tag erinnern zu können; er sah noch das blaue Flanellhemd des alten Mannes vor sich. Doch den freundlichen Herrn hatte es nie gegeben!
- Der fundamentale Attributionsfehler
- Die Normalitätsverzerrung
- Der Rückschaufehler
- Die Wissensillusion
- Die Verlustaversion
- Die Fokussierungsillusion
- Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom
In den 1980er-Jahren kam die Recovered-Memory-Therapie in Mode. Mit ausgelöst wurde der Hype durch den Bestseller des kanadischen Psychiaters Lawrence Pazder (1936–2004) und seiner Patientin Michelle Smith, die sich an blutige Opferrituale erinnerte, die sie als Kind mitangesehen habe. »Michelle Remembers« verkaufte sich gut eine Million Mal. So entstand die Legende um die »rituelle Gewalt«. Satanistenzirkel würden Kinder schänden, sogar töten. Dass die Polizei nichts davon weiß, beweise nur, wie weit die Verbindungen der Verschwörer reichen, meinen die Anhänger solch steiler Thesen. Doch Mangel an Evidenz ist noch lange keine Evidenz für die Realität des Horrors.
Ganze Kliniken spezialisieren sich in den USA auf Traumatherapie mittels wiederentdeckter Erinnerungen. Denn: Erinnern lindert Leiden. So ziehen Patienten mit psychosomatischen Beschwerden oft eine wiederentdeckte Wahrheit über ihre Schmerzen als Alternative zur Ungewissheit vor. Und Therapeuten blicken mit Genugtuung auf ihre Funde, selbst wenn sie diese den eigenen Suggestionen verdanken.
Gibt es verdrängte Erfahrungen?
Inzwischen hat sich in der Psychologie die Ansicht durchgesetzt, dass vermeintlich freigelegte Erinnerungen oft auf den FalseMemory-Effekt zurückgehen. Dennoch bekundeten in einer 2024 publizierten Umfrage unter deutschen Psychotherapeuten mehr als 80 Prozent von ihnen, dass es verdrängte Erfahrungen gibt; und etwa jeder fünfte – unter Tiefenpsychologen jeder vierte – hielt es für seine Aufgabe, solche Fälle aufzudecken.
Die Debatte um verdrängte Traumata ist eine zweischneidige Sache. Schließlich versuchen viele Täter, das Leid von Opfern zu bagatellisieren, indem sie es als Erinnerungsfehler abtun. Dass ein Missbrauch dennoch nicht oder nicht so wie erinnert stattfand, ist möglich und muss, trotz aller Hürden, im Einzelfall geprüft werden. Und zwar nicht vom Social-Media-Tribunal!
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