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Schule in Coronazeiten: Falsche Hoffnung Sommerferien

Ein Jahr lang müsse der Unterricht ausfallen, sagt der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Jan-Martin Wiarda ist von seiner Argumentation nicht überzeugt.
Leere Tische und Stühle, eine Kreidetafel im Hintergrund.

Karl Lauterbachs Twitter-Profil stellt ihn vor als »SPD-Bundestagsabgeordneter, der noch selbst tweetet«. Und das tut der Gesundheitspolitiker und Mediziner reichlich – und noch reichlicher, seit die Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Denn bevor Lauterbach 2005 ins Parlament einzog, war der Universitätsprofessor Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Universität zu Köln. Lauterbach hat einen Beruf und eine Berufung, und wer seine Äußerungen zu Covid-19 verfolgt, der weiß nie genau, wo der Wissenschaftler aufhört und der Politiker anfängt.

Gestern hat Lauterbach, der über stolze 149 000 Follower verfügt, mit einer Serie von Tweets erneut für Aufsehen gesorgt. Der wichtigste war gleich der erste. »Praktisch bedeuten die Kinderstudien folgendes«, schrieb Lauterbach: »Regulärer Unterricht fällt für mindestens 1 Jahr aus. Das kann jetzt als epidemiologisch sicher gelten. Daran ändern weder Apps noch Masken etwas. Es ist die Übertragung durch Aerosole und Kontakte im Klassenraum.«

Es folgt ein aus fünf weiteren Teilen bestehender Thread, in dem der Gesundheitspolitiker sich vor allem bildungspolitisch betätigt. Die öffentliche Diskussion, fordert er im Vorfeld der heutigen Bund-Länder-Beratungen, müsse sich verschieben weg von der Frage, »wer zuerst öffnet, hin dazu, welches Bundesland es schafft, mit Homeschooling und besonderer Unterstützung der bedürftigen Kinder das nächste Schuljahr zu organisieren«. Womit auch klar ist: Lauterbach spricht zwar in seinem ersten Tweet nur vom Ausfall des «regulären Unterrichts«, eigentlich meint er aber fast jeglichen Präsenzunterricht.

Die Unverblümtheit, mit der Lauterbach Millionen Schulkinder, und die nicht erwähnten Kitakinder wahrscheinlich gleich dazu, bis mindestens Mitte 2021 zum großen Teil zu Hause festsetzen will, kann man entweder als besonders aufrichtig bezeichnen. Oder als einseitig und überzogen. Die meisten Kommentatoren auf Twitter, viele von ihnen Eltern, taten Letzteres. Verantwortungslos! Realitätsfern! Ein User – einer der höflicheren – schrieb: »Bei allem Respekt, Herr Lauterbach, aber Sie leben in einer Blase. Es gibt so viele Punkte, die Sie nicht berücksichtigen.«

Doch bedeutet die verständliche Empörung der Betroffenen automatisch, dass Lauterbach falschliegt?

Erste Antwort: Bei genauerem Hinsehen erweist sich sein scheinbar so pointierter Thread als erstaunlich verschwommen. Lauterbach spricht von »Kinderstudien» – welche er damit meinen könnte, muss man sich aus früheren Tweets zusammenreimen, in denen er sich über zwei Untersuchungen geäußert hat: eine an der Charité, durchgeführt unter Beteiligung des Virologen Christian Drosten, die zweite von chinesischen, italienischen und US-Wissenschaftlern, veröffentlicht in »Science«.

Eine überraschend vage Argumentation

Doch sind beide Studien gar nicht mit einem speziellen Fokus auf Kinder konzipiert worden. Die Charité-Studie, die vergangene Woche noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet war, beschäftigt sich mit der Viruslast in den Atemwegen von 3700 Covid-19-Patienten, darunter nur 47, die unter zwölf Jahre alt sind. Und die »Science«-Veröffentlichung beschreibt die Corona-Infektionswahrscheinlichkeit aller Altersgruppen, wobei Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre sich nur ein Drittel so häufig anstecken wie Erwachsene.

Es handelt sich nicht um Kinderstudien, aber beide Untersuchungen sagen, auf unterschiedlich solider empirischer Basis, etwas über Kinder aus. Dazu gehört, dass in der nicht repräsentativen Charité-Studie auch die 47 Kinder eine beträchtliche Menge an Viren im Rachen hatten,16 davon so viele, dass von einer relevanten Infektiosität ausgegangen werden kann. Und dass die »Science«-Autoren darauf verweisen, dass die Schulkinder seltener infiziert seien, dafür aber unter »normalen« Bedingungen bis zu zehnmal so viele enge soziale Kontakte hätten wie Erwachsene – also viel mehr Gelegenheiten, andere anzustecken.

Das sind die Punkte, die Lauterbach offenbar meint, wenn er twittert, dass der reguläre Unterricht für mindestens ein Jahr ausfallen müsse, könne »jetzt als epidemiologisch sicher gelten«. Eine Schlussfolgerung freilich, die in einer solchen Eindeutigkeit von den meisten Virologen und Epidemiologien in Bezug auf Covid-19 derzeit noch bei so ziemlich gar nichts gezogen wird«– und erst recht nicht angesichts von Studien, die so viele Forschungsfragen offenlassen. Forschungsfragen, die zum Beispiel die erste richtige derzeit laufende deutsche Corona-Kinderstudie aus Baden-Württemberg zum Gegenstand hat.

Die zweite Antwort auf die Frage, ob Lauterbach mit seiner drastischen Ansage Recht hat oder nicht, beginnt mit einer wichtigen Differenzierung, die der Sozialdemokrat immerhin dann doch selbst vornimmt: Er bezeichnet seine Schlussfolgerung des weit gehenden Unterrichtsausfalls lediglich als »epidemiologisch sicher«. Er schreibt nicht »wissenschaftlich sicher«, denn Lauterbach weiß selbst, dass Wissenschaft viel mehr umfasst als nur die Perspektive der Epidemiologen.

Nicht nur das Virus bedroht Kinder und Familien

Tatsächlich warnen Bildungsforscher, Soziologen und Pädagogen seit Wochen vor den dramatischen Folgen der anhaltenden Kita- und Schulschließungen. Sie fürchten, ein Fünftel und mehr der Kinder könnten abgehängt werden, weil ihre Familien ihnen nicht angemessen beim Homeschooling helfen können. Besonders auch Kitakinder mit mangelnden Sprachkenntnissen könnten auf der Strecke bleiben. Die psychologischen Auswirkungen, wochen- oder monatelang kaum mit Gleichaltrigen zusammen sein zu können, könnten für alle Kinder gravierend sein, es drohen vielfach Entwicklungsverzögerungen. In den Familien steigt derweil der Stress, es drohen in einigen Fällen Missbrauch und Gewalterfahrungen hinter verschlossenen Türen.

Doch nicht nur die Kinder wären von einer weit gehenden Aussetzung des Präsenzbetriebs in Kitas und Schulen empfindlich betroffen und getroffen, ihre Eltern wären es ebenso. Eine normale Lebens- und Karriereplanung fiele ebenfalls über ein Jahr weg, die gesellschaftliche Teilhabe besonders von Frauen, an denen die meiste Betreuungsarbeit hängen bleibt, würde empfindlich leiden.

»Die Sommerferien müssen genutzt werden, modernes Unterrichtsmaterial und die Technik vorzubereiten. Die jetzige Versorgung der Schüler ist katastrophal«Karl Lauterbach

Dies sind die Szenarien, vor denen viele der führenden Sozialwissenschaftler im Land warnen; sie zeigen, dass die Schlussfolgerung, der Präsenzunterricht müsse mindestens ein Jahr mehr oder weniger ausfallen, aus der Sicht zahlreicher Wissenschaften als alles andere als sicher gelten dürfte.

Lauterbach indes, der in seinem ersten Tweet zumindest diese wichtige Differenzierung eingebaut hat, geht im weiteren Verlauf seines 1000-fach geteilten Threads dann doch über die Berechtigung all dieser anderen wissenschaftlichen Perspektiven hinweg, indem er, der Epidemiologe und Gesundheitspolitiker, den Bildungsexperten und Soziologen in wenigen Sätzen erklärt, wie es seines Erachtens trotzdem klappen kann mit dem Bildungserfolg – wenn sich nur alle Beteiligten beim Homeschooling ein wenig anstrengen. Dass er dabei, nebenbei gesagt, die Kitas völlig ausblendet, sagt viel aus über sein Verständnis von Bildung.

Ein paar Beispiele: Noch immer, schreibt Lauterbach, gebe es Schulen, die abwarten, ob es im Herbst wieder normale Schule gibt. »So verliert man wichtige Zeit. Die Sommerferien müssen genutzt werden, modernes Unterrichtsmaterial und die Technik vorzubereiten. Die jetzige Versorgung der Schüler ist katastrophal.«

Wie katastrophal ist die Lage tatsächlich?

Welche Schulen genau meint Lauterbach? Überall im Land mühen sich die Kollegien nach Kräften, sich auf eine neue Unterrichtswirklichkeit in Zeiten von Corona vorzubereiten. Wenn überhaupt, so sind es die Kultusminister, die die klare Ansage scheuen – und sich bislang nur zu der Mitteilung durchringen konnten, dass »nach dem jetzigen Stand … vor den Sommerferien auf Grund des Abstandsgebots kein uneingeschränkt regulärer Schulbetrieb mehr möglich sein« werde.

Auch die Empirie dafür, dass die »jetzige Versorgung der Schüler … katastrophal« sei, liefert Lauterbach nicht – und das hat nichts mit der Kürze des Mediums Twitter zu tun. Es kann sie nämlich gar nicht geben, weil die Ausstattung mit modernem Unterrichtsmaterial und Technik an einigen Schulen schon jetzt spitze ist – allerdings an der Mehrheit, so viel ist richtig, immer noch mangelhaft. Das freilich wird sich auch über die Sommerferien, wie Lauterbach sich das vorstellt, nicht beheben lassen, denn die zur Technik-Ertüchtigung vorgesehenen 5,5 Milliarden Euro aus dem so genannten Digitalpakt fließen äußerst zögerlich. Das aber wegen der komplizierten Antragsverfahren, nicht wegen der Schulen.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Womit eine Kernannahme Lauterbachs zur Machbarkeit des einjährigen regulären Unterrichtsausfalls hinfällig ist: Nein, die notwendige Technik wird nicht vollumfänglich und überall nach den Sommerferien zur Verfügung stehen. So, wie sie jetzt nicht überall »katastrophal« ist, wird sie auch dann noch an vielen Orten nur rudimentär sein – mit drastischen Folgen für die Bildungsgerechtigkeit.

Apropos Bildungsgerechtigkeit: Lauterbach doziert weiter. Oft würden (von den Lehrkräften) nur Aufgaben kopiert oder verschickt. »Können die Eltern den Unterricht nicht selbst geben, kapieren die Kinder nichts und sind frustriert. Aufgaben kontrollieren den Erfolg des Unterrichts. Sie ersetzen ihn nicht.«

Schule wird sich neu erfinden müssen

Womit der Gesundheitspolitiker den Kern ungleich verteilter Chancen beim Homeschooling korrekt erfasst hat – gleichzeitig aber so tut, werde sich die Schieflage automatisch ändern, sobald die Technik vorhanden ist (wird sie, siehe oben, nicht sein) und die angewandten Methoden andere wären: »Für Kinder muss die Möglichkeit bestehen, miteinander über den Unterrichtsstoff zu sprechen und dem Lehrpersonal Fragen zu stellen. Dazu muss es Präsenzangebote und auch eine technische Vernetzung geben. Wir brauchen ein Paket, welches Familien mit Kindern dies garantiert.« Dafür müssten allen Familien mit Kindern schnelle Netzgeschwindigkeit und Hardware garantiert werden, Lehrer müssten in der Technik im Sommer geschult werden. »Diese Investition ist wichtiger als zum Beispiel Kaufprämien für Autos«, beendet Lauterbach seinen Thread.

Mit der Priorisierung von Bildungsinvestitionen über Lobby-Geschenke an die Automobilindustrie hat der SPD-Politiker Recht, sonst aber liefert er unklare Botschaften und uneindeutige Begriffe. Wovon genau redet er? Meint er mit »Präsenzangeboten« auch normale Schulstunden? Eher nicht, so scheint es.

Im besten Fall, so könnte man annehmen, zeichnet Lauterbach die Vision vom »Flipped Classroom«, einer in der modernen Pädagogik beliebten Methode, die digitale Lerneinheiten mit der Möglichkeit kombiniert, das Gelernte in der Gruppe zu besprechen. Doch erfordert der Flipped Classroom kaum weniger Präsenzzeit als hergebrachter Unterricht, es ist nur andere Präsenszeit. Und selbst wenn sich die Besprechung des Stoffs teilweise auch online darstellen ließe – bei seiner Aneignung wären die Kinder zu Hause wieder weitgehend auf sich allein gestellt. Kein Wunder, dass die Methode Flipped Classroom bei älteren Lerngruppen, etwa an der Hochschule, beliebter ist als bei den Kleinen.

Vielleicht aber meint Lauterbach auch etwas ganz anderes und lässt es nur im Ungefähren. Wahrscheinlicher ist indes, dass er es auch nicht so genau weiß, doch mit der Betonung der Möglichkeiten modernen Digital-Unterrichts eine empathisch klingende Rechtfertigung für seine eigene Maximalposition aufbauen möchte. Politisch ist das legitim – nur stört der wissenschaftliche Anstrich dabei.

Realistischer und – im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnisse der unterschiedlichen Disziplinen – auch wissenschaftsbasierter, wäre es, wenn Lauterbach es bei seinem ersten Tweet belassen hätte. Denn ja, der reguläre Unterricht wird mindestens ein Jahr lang ausfallen – oder, falls bis dahin kein Impfstoff vorliegt, sogar noch länger. Doch die Alternative sind nicht weitgehend zugesperrte Klassenräume, sondern ihre luftige Besetzung, täglicher, aber zeitlich beschränkter Präsenzunterricht mit Abstand und in Schichten und verknüpft mit sinnvollen digitalen Angeboten.

Schule wird sich in Corona-Zeiten neu erfinden müssen. Damit das gelingt, werden mutige Schulstrategen benötigt, leidenschaftliche Pädagogen und versierte Bildungswissenschaftler – ganz sicher keine Twitter-Threads dozierender Gesundheitspolitiker.

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