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Unwahrscheinlich Tödlich: Tod durch Kannibalismus

Die Verspeisten sind normalerweise schon tot, aber auch Kannibalen können an den Folgen ihres Mahls sterben. Und ebenso, wer wiederum diese später isst. Der Grund: die neurodegenerative Krankheit Kuru.
Ein weißer menschlicher Schädel liegt auf einer hellblauen Oberfläche. Die Schädeldecke fehlt, sie wurde dem Anschein nach fein säuberlich abgesägt.
Der Infektionsherd steckte im Kopf der Verstorbenen.
Eines ist sicher: Irgendwann geben wir alle den Löffel ab. Weniger absehbar ist das Wie. Denn es gibt eine schier unendliche Zahl an Wegen, die einen Menschen ins Grab bringen können – manche von ihnen außergewöhnlicher, verblüffender und bizarrer als andere. In der Kolumne »Unwahrscheinlich tödlich« stellen wir regelmäßig solche Fälle vor, von bissigen Menschen über giftige Reisbällchen bis hin zu lebensgefährlichem Sex.

Es wird wohl kaum jemanden verwundern, der diese Kolumne kennt: Gespräche über skurrile Todesursachen sind in meiner Gesellschaft keine Seltenheit. Manches Thema bereitet jedoch sogar eher hart gesottenen Zeitgenossen Bauchschmerzen. Besonders viele reagieren meiner Erfahrung nach mit Ekel und Ablehnung darauf, wenn von Menschen essenden Menschen die Rede ist. Doch zugleich geht unleugbar eine morbide Faszination von Geschichten über Kannibalen aus. Schließlich ist es sicher kein Zufall, dass Kannibalismus in so manchem erfolgreichen Buch oder Film eine Rolle spielt.

In der Welt der Fiktion findet man häufig den »kultivierten« und mörderisch cleveren Menschenesser vom Typ Hannibal Lecter. Im wahren Leben ist diese Sorte zum Glück sehr selten. Der Verzehr von anderen Personen geschieht hier vor allem aus zwei Motivationen: Entweder hängt das Überleben davon ab oder der Akt hat rituelle Hintergründe. Letzteres wurde einem Volk in Papua-Neuguinea vor etwa 100 Jahren zum Verhängnis. Denn die neurodegenerative Krankheit Kuru streckte einen Teil derjenigen nieder, die zuvor am zeremoniellen Verzehr von Verstorbenen teilgenommen hatten. Die Erforschung dessen, was ihnen widerfuhr, brachte einem Wissenschaftler sogar einen Nobelpreis ein – und ebnete den Weg für einen weiteren.

Den Startschuss für die Epidemie, die auf ihrem Höhepunkt jährlich mehr als ein Prozent der lokalen Bevölkerung dahinraffte, gab eine einzige Person. Sie verstarb vermutlich um das Jahr 1900, einige Jahrzehnte bevor Kolonialisten in das Siedlungsgebiet vordrangen und bei den Einheimischen eine ungewöhnliche Art von Schüttellähmung beobachten. Über diesen ersten Patienten wissen wir nur aus späteren Rekonstruktionen. Er oder sie war Mitglied des Volks der Fore, in dem sich das Leiden im Anschluss langsam ausbreitete. Wahrscheinlich führte eine Mutation im Erbgut der Person dazu, dass sie eine neurodegenerative Erkrankung entwickelte.

Folgenschwerer Leichenschmaus unter den Fore

Dass sie diese an andere weitergab, hat aber nichts mit Genetik zu tun – hier kommen die ungewöhnlichen Bestattungsrituale der Fore ins Spiel. Zu der Zeit, als Kuru sich wie ein Flächenbrand verbreitete, praktizierten Mitglieder der Volksgruppe rituellen Kannibalismus. Nach dem Tod einer Person verspeisten Hinterbliebene ihre sterblichen Überreste, sofern der oder die Verstorbene oder ihre Familie sich das wünschte. In der Fachliteratur wird das Brauchtum als ihre Art beschrieben, den Toten zu ehren. Die Angehörigen lassen ihm so noch einmal ihre Liebe zuteilwerden. Außerdem hoffen die Fore, seinen Seelen (in ihrem Glauben hat jeder Mensch fünf davon) damit den Weg ins Jenseits zu erleichtern.

Bei den Zeremonien wurde tatsächlich der gesamte Körper konsumiert, inklusive Knochen und Gehirn. In Letzteren, genauer gesagt in den Nervenzellen des Verstorbenen, schlummerte ein bis dahin unentdeckter und äußerst ungewöhnlicher Krankheitserreger: Kein Virus oder Keim, sondern ein fehlgefaltetes Protein machte die Trauergäste krank. Dieses so genannte Prion schadet dem Gehirn, indem es die entsprechenden Eiweiße in den Neuronen der Verspeisenden dazu anregt, ebenfalls ihre Struktur zu verändern. Daraufhin sammeln diese modifizierten Proteine sich im Hirngewebe an und bringen die Zellen zum Absterben.

Tierische Prionen verursachen etwa bei Huftieren die Zombiehirschkrankheit und den Rinderwahn (BSE). Auch sie können Menschen durch ihren Verzehr gefährlich werden, wie die BSE-Übertragungen ab Mitte der 1990er Jahre in Großbritannien zeigten. Und das selbst dann, wenn sie gut durchgekocht sind, denn Prionen sind gegenüber Hitze sehr beständig.

Kuru begann mit einem veränderten Bewegungsmuster

Menschen mit Kuru blieben nach ihrer Ansteckung jahrelang symptomfrei. Doch lange bevor die Krankheit aufflammte, lief in ihrem Gehirn bereits die zerstörerische Prionen-Umfaltungskaskade an. Die ersten Anzeichen der entstehenden Schäden waren charakteristische Gangstörungen. Das Umfeld bemerkte sie meistens vor den Betroffenen, die ihren Alltag in dieser Phase noch relativ uneingeschränkt bestritten. Typisch war auch eine zunehmende Emotionalität; die Patienten neigten zu Launenhaftigkeit und unangemessenen Lachattacken. Von Woche zu Woche wurden ihre Bewegungen unkoordinierter. Sie stießen sich oft an Hindernissen und bekamen »weiche Knie«. Irgendwann begann ihr gesamter Körper zu zittern. Beim Essen brauchten sie nun Unterstützung und auch das Laufen klappte nur noch mit einer Gehhilfe, ein bis zwei Monate später gar nicht mehr. Wenig danach verloren die Patienten die Fähigkeit, selbstständig zu sitzen. Sie sprachen zunehmend unverständlich, bis sie ganz schwiegen. Zum Überleben waren sie am Ende vollkommen auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen. Diese letzte Phase dauerte etwa drei bis sechs Monate. Das Leiden schreitet unaufhaltsam fort und ist wie andere Prionenerkrankungen nicht heilbar. Wer Kuru einmal entwickelte, starb also unweigerlich an den Folgen.

Die Epidemie dürfte langsam angelaufen sein. Der Ursprungsfall steckte wahrscheinlich eine Hand voll weiterer Menschen an, nämlich jene, die Gehirn oder Knochenmark des Betroffenen konsumiert hatten. Nach der langen Inkubationszeit zeigten sich bei ihnen erste Beschwerden. Vom Aufflammen von Kuru bis zum Tod der Infizierten dauerte es in der Regel sechs bis zwölf Monate. Dann gaben die Verstorbenen die Prionen wieder über das Bestattungsritual an ihre Hinterbliebenen weiter. Und so breitete sich Kuru wellenartig in der Gemeinschaft aus.

Das erklärt, warum vor allem Frauen und Kinder in südlichen Siedlungen der Fore erkrankten. Männer nahmen an dem Leichenschmaus der anderen Art nämlich nicht teil. Den Kopf der verstorbenen Person – und mit ihm das Gehirn – bekamen nahe Angehörige wie Schwestern, Mütter, Kinder oder sonstige verwandte und verschwägerte Frauen. Die Epidemie verlief so entlang der familiären Netzwerke der Fore. Andere Stämme in der Region blieben großteils verschont, selbst dann, wenn ihre Bewohner ebenfalls Kannibalismus praktizierten.

Der Weg zu den Nobelpreisen

Der Estländer Vincent Zigas war der erste westliche Mediziner, der Betroffene untersuchte. Er kam Anfang der 1950er Jahre nach Papua-Neuguinea, damals eine australische Kolonie. Nachdem er von einer eigenartigen Krankheitswelle im Gebiet der Fore gehört hatte, drang er 1955 selbst in die isolierten Dörfer vor. Dabei beobachtete er neun Menschen mit einer Bewegungsstörung, die er mit Morbus Parkinson verglich. Er sicherte sich die Unterstützung eines Forschungsinstituts in Australien und begann, die Epidemie zu studieren.

Zigas hatte bereits einiges an Vorarbeit geleistet, als der US-amerikanische Virologe D. Carleton Gajdusek 1957 auf der Insel Neuguinea erschien. Er hatte wohl von dem Krankheitsausbruch Wind bekommen und bot seine Hilfe bei der Aufklärung an. Die beiden Mediziner reisten daraufhin gemeinsam durch Fore-Siedlungen. Sie stellten fest, dass mehr als ein Prozent der besuchten Einwohner Krankheitsanzeichen zeigte. Die Epidemie hatte die weibliche Bevölkerung dezimiert; die Wissenschaftler bemerkten einen starken Überhang von Männern in den Dörfern. Sie errichteten eine Krankenstation in dem Gebiet und nahmen Blut- und Gewebeproben von zahlreichen Erkrankten und Verstorbenen.

Noch im selben Jahr veröffentlichten die beiden ihre ersten Studien zu Kuru als epidemische Erkrankung in einer Region von Neuguinea sowie deren Symptome und Verlauf. Sie gingen davon aus, dass das Leiden ansteckend sein dürfte. Gajdusek vermutete anfangs als Auslöser einen besonders langsam wirkenden Virus. Für seinen Nachweis, dass Kuru sich über Hirngewebe von Erkrankten auf Affen und andere Tiere übertragen ließ, erhielt er 1976 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Den Infektionsursprung im Zentralnervensystem und den Wirkmechanismus von Prionen beschrieb 1982 ein weiterer Forscher, der dafür in den 1990er Jahren ebenfalls einen Nobelpreis bekam: Stanley Prusiner.

Erst 1984 wiesen Fachleute unter Gajdusek den Zusammenhang zwischen Kuru und den Bestattungsritualen der Fore abschließend nach. In jener Studie gelang es ihnen, den Ursprung dreier Krankheitscluster festzumachen: Die später Erkrankten hatten sich bei Trauerfeiern angesteckt, bei denen sie die Überreste Verstorbener verzehrt hatten. Zu der Zeit gingen die neu auftretenden Kurufälle bereits zurück, zusammen mit der Häufigkeit kannibalistischer Praktiken in der Region. Der letzte bekannte Betroffene verstarb 2009. 2012 wurde die Epidemie offiziell für beendet erklärt.

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