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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Eine Mathematik ohne Unendlichkeit – und ohne Pi

Es gibt Strömungen der Mathematik, die Unendlichkeiten ablehnen – und damit auch irrationale Zahlen wie Pi. Kann dieser Finitismus womöglich unsere Welt besser beschreiben?
Unendlichkeitszeichen in einem Farbverlauf von Blau zu Rosa, schwebend vor einem Hintergrund mit sanften Pastelltönen. Symbolisiert Unendlichkeit und Kontinuität.
Unendlichkeiten sind fester Bestandteil der modernen Mathematik - doch das sehen Finitisten anders.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen; viele davon können Sie auch im Podcast »Geschichten aus der Mathematik« hören.

Eine Frage beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden: Gibt es Unendlichkeiten? Schon Aristoteles unterschied vor mehr als 2300 Jahren zwischen zwei Arten von Unendlichkeiten, einer potenziellen und einer echten. Erstere ergibt sich durch wiederholte Prozesse, zum Beispiel wenn man einfach ewig weiterzählt - es existieren also potenziell unendlich viele Zahlen. Echte Unendlichkeiten hingegen, so glaubte der antike Gelehrte, könne es nicht geben.

Und tatsächlich machten Mathematiker bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen großen Bogen um Unendlichkeiten. Zu unsicher waren sie, wie man mit diesen Größen verfahren sollte. Was ergibt unendlich plus eins? Oder unendlich mal unendlich? Doch Georg Cantor machte dem Zweifeln ein Ende. Mit der Mengenlehre begründete er erstmals eine mathematische Theorie, die es ermöglichte, mit dem Unermesslichen umzugehen. Seither sind Unendlichkeiten integraler Bestandteil der Mathematik. Bereits in der Schule lernt man die Menge der natürlichen oder der reellen Zahlen kennen, die jeweils unendlich groß sind, oder man begegnet irrationalen Zahlen wie Pi und der Wurzel aus zwei, die unendlich viele Nachkommastellen besitzen.

Und doch gibt es Menschen, so genannte Finitisten, die bis heute das Unendliche ablehnen. Da alles in unserem Universum - darunter auch die Ressourcen, um Dinge zu berechnen - begrenzt zu sein scheint, mache es keinen Sinn, mit Unendlichkeiten zu rechnen. Und tatsächlich haben einige Fachleute einen alternativen mathematischen Zweig aufgestellt, der sich nur auf endlich konstruierbare Größen stützt. Einige versuchen nun sogar, diese Ideen auf die Physik zu übertragen, in der Hoffnung, bessere Theorien zu finden, die unsere Welt beschreiben.

Mengenlehre und Unendlichkeiten

Die moderne Mathematik fußt auf der Mengenlehre, die sich, der Name sagt es schon, um Mengen dreht. Eine Menge kann man sich wie einen Sack vorstellen, in den man alles Mögliche hineinpacken kann: Zahlen, Funktionen oder auch andere Mengen. Indem man die Inhalte verschiedener Säcke miteinander vergleicht, also die Elemente, die sich darin befinden, lässt sich die Größe der Säcke bestimmen. Das heißt: Wenn ich wissen will, ob einer voller ist als der andere, nehme ich aus jedem jeweils gleichzeitig ein Objekt heraus - und schaue, welcher der Säcke als Erstes leer ist.

Das klingt wahrscheinlich nicht besonders erstaunlich - das Prinzip können schon Kleinkinder begreifen. Wie Cantor aber erkannte, lassen sich auf diese Weise auch unendlich große Mengen miteinander vergleichen. So kam er etwa zu dem Schluss, dass es verschieden große Unendlichkeiten gibt. Unendlich ist nicht immer gleich unendlich; manche Unendlichkeiten sind größer als andere.

Bijektion | Zwei Mengen sind gleich groß, wenn es eine Eins-zu-eins-Abbildung (Bijektion) zwischen den Elementen der jeweiligen Mengen gibt. So etwa zwischen der Menge der natürlichen Zahlen (0, 1, 2, 3, ...) und der geraden Zahlen (0, 2, 4, ...)

Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel nutzten die Mengenlehre, um der Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Fundament zu verleihen. Bis dahin gab es zwar verschiedene Gebiete des Fachs - wie Geometrie, Analysis, Algebra oder Stochastik -, sie existieren jedoch größtenteils isoliert voneinander. Mathematiker träumten von einem möglichst einfachen Regelwerk, aus dem sich alles in der Mathematik aufbaut. Dieses fanden Fraenkel und Zermelo. Sie formulierten neun Grundregeln, so genannte Axiome, auf die sich inzwischen das gesamte Fach stützt.

Ein solches Axiom ist beispielsweise die Existenz der leeren Menge: Mathematiker nehmen an, dass es das Nichts gibt; einen leeren Sack. Das stellt eigentlich niemand in Frage. Ein anderes Axiom hingegen sorgt dafür, dass auch unendlich große Mengen existieren. Und hier rümpfen Finitisten die Nase. Sie wollen eine Mathematik aufbauen, die ohne dieses Axiom auskommt - eine endliche Mathematik.

Der Traum einer endlichen Mathematik

Finitisten lehnen Unendlichkeiten nicht nur wegen der endlichen Ressourcen ab, die uns in der realen Welt zur Verfügung stehen. Sie stören sich auch an kontraintuitiven Ergebnissen, die sich aus der Mengenlehre ableiten lassen, zum Beispiel das so genannte Banach-Tarski-Paradoxon: Demnach ist es möglich, eine Kugel zu zerlegen und anschließend wieder zu zwei Kugeln zusammenzusetzen, die jeweils so groß sind wie die ursprüngliche. Das heißt, aus mathematischer Sicht ist es kein Problem, eine Kugel zu verdoppeln.

Banach-Tarski-Paradoxon | Eine Kugel mit Volumen V lässt sich in zwei Kugeln mit je einem Volumen von V zerlegen, also verdoppeln.

Wenn die neun Axiome solche Ergebnisse zulassen, so die Argumentation der Finitisten, dann muss etwas mit den Axiomen falsch sein. Und da die meisten, so wie die Existenz der leeren Menge, völlig intuitiv sind und auf der Hand liegen, lehnen Finitisten jenes ab, das aus ihrer Sicht als Einziges dem gesunden Menschenverstand widerspricht - das Axiom zu unendlichen Mengen.

Insgesamt lässt sich die Auffassung von Finitisten folgendermaßen ausdrücken: »Ein mathematisches Objekt existiert nur dann, wenn es aus den natürlichen Zahlen mit einer endlichen Anzahl von Schritten konstruiert werden kann.« Unter anderem sind irrationale Zahlen kein Teil dieser endlichen Mathematik. Zwar kennt man für einige der Vertreter, wie Pi oder Wurzel zwei, klare Formeln, um sie zu berechnen. Aber diese bestehen aus unendlichen Summen - also Operationen, die unendlich oft durchgeführt werden.

Das bringt weit reichende Konsequenzen mit sich. Zum Beispiel gelten einige logische Grundlagen nicht mehr, wie der von Aristoteles vorgebrachte Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Demnach ist eine mathematische Aussage stets entweder wahr oder falsch. Im Finitismus ist das allerdings nicht mehr zwingend der Fall, da eine Aussage zu einem gewissen Zeitpunkt unbestimmt sein kann, falls der Wert einer Zahl noch nicht feststeht. Das ist zum Beispiel der Fall bei Aussagen, die sich um Zahlen wie 0,999… drehen. Wenn man die volle Periode ausführt - also unendlich viele Neunen betrachtet, dann ist 0,999… = 1. Wenn es aber keine Unendlichkeit gibt, ist diese Aussage schlicht falsch.

Eine finitistische Welt?

Ohne den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ergeben sich jede Menge Schwierigkeiten. Denn tatsächlich fußen viele mathematische Beweise auf eben diesem Prinzip. Kein Wunder, dass sich nur wenige Mathematikerinnen und Mathematiker dem Finitismus verschrieben haben - das Ablehnen von Unendlichkeiten macht das Fach nicht etwa einfacher, sondern deutlich komplizierter.

Und doch gibt es inzwischen sogar Physiker, die dieser Philosophie folgen, unter anderem Nicolas Gisin von der Université de Genève. Dieser hat die Hoffnung, dass eine endliche Welt der Zahlen unser Universum besser beschreiben könnte als die jetzige moderne Mathematik. Grundlage seiner Überlegungen ist, dass Raum und Zeit offenbar nur eine begrenzte Menge an Information enthalten können. Demnach macht es keinen Sinn, mit unendlich langen oder unendlich großen Zahlen zu rechnen - denn diese finden im Universum keinen Platz.

Besonders weit sind die Bemühungen bislang noch nicht fortgeschritten. Trotzdem finde ich es einen spannenden Ansatz. Denn aktuell scheint die Physik gewissermaßen festzustecken: Die grundlegendsten Fragen über unser Universum (etwa, wie es entstanden ist oder was die Grundkräfte sind und wie sie zusammenhängen) sind bislang unbeantwortet. Eine andere Mathematik als Ausgangspunkt zu wählen, um solchen Problemen zu begegnen, ist aus meiner Sicht durchaus einen Versuch wert.

Außerdem ist es generell eine faszinierende Frage, wie weit man in der Mathematik kommen kann, wenn man einige Grundannahmen verändert oder weglässt. Wer weiß, welche Überraschungen im endlichen Bereich der Mathematik lauern? Am Ende läuft es aber auf eine Glaubensfrage hinaus: Glaubt man an Unendlichkeiten oder nicht? Das muss jeder für sich selbst beantworten.

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