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Kommentar: Wie Frauen der Spaß an MINT-Fächern verdorben wird

Frauen könnten die Naturwissenschaften beflügeln, aber für viele Mädchen kommt solch eine Laufbahn nicht in Frage. Weshalb es höchste Zeit ist, das zu ändern.
Mädchen in einem Technikmuseum

»Bedeutende Naturwissenschaftler« steht auf dem Plakat, das in vielen Physikzimmern an Schweizer Gymnasien hängt. Keine »-innen« im Titel, kaum »-innen« im Text. Gerade einmal zwei Frauen findet, wer unter den mehr als 100 Menschen sucht, die da porträtiert sind: Marie Curie und Lise Meitner. Letztere hat allerdings keinen eigenen Eintrag, sondern wird bei ihrem Kollegen Otto Hahn beiläufig erwähnt. Sonst: Männer, so weit das Auge reicht, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Männer mit Perücke, Männer mit Bart. Männer, Männer, Männer. So kann das nicht weitergehen.

Sicher, diese Männer haben viel für die Naturwissenschaften geleistet; sie verdienen ihren Platz auf dem Plakat. Doch es gibt auch Frauen, die einen Platz darauf verdient hätten. Wäre es so schwer, dafür ein paar Quadratzentimeter frei zu schaufeln? Oder das Plakat, das die Firma IBM den Schulen schon vor Jahren zur Verfügung gestellt hat, einfach noch ein bisschen zu vergrößern? Schließlich hängt es genau da, wo junge Frauen für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (die so genannten MINT-Fächer) begeistert werden sollen: in der Schule. Da, wo Vorbilder gezeigt, wo Geschlechterbilder im Unterricht thematisiert werden könnten. Da, wo die Bildungspolitik die Lösung für den Fachkräftemangel vermutet. Doch anstatt ein paar Forscherinnen abzubilden, hängen Einstein und Newton gleich auch noch in Großformat an der Wand.

Wie wäre es stattdessen mit der spätantiken Mathematikerin Hypatia? Mit der Software-Pionierin Ada Lovelace? Oder mit einem Porträt der Laserforscherin Donna Strickland? Die Kanadierin hat im Herbst 2018 den Physik-Nobelpreis gewonnen, als erste Frau seit Maria Goeppert-Mayer im Jahr 1963. Mehr als ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis sich das Nobelkomitee durchringen konnte, mal wieder eine Physikerin auszuzeichnen. Nicht, dass es keine würdigen Frauen gegeben hätte. Zum Beispiel die Astrophysikerin Vera Rubin, die für ihre Arbeiten zur Dunklen Materie längst einen Nobelpreis verdient gehabt hätte. Nun wird vielleicht postum ein Teleskop nach ihr benannt. Seufz.

Junge Frauen brauchen Ermutigung

Das Nobelpreiskomitee schaue eben nicht aufs Geschlecht, heißt es. Es würden eben die Besten gewinnen. Tja. Was eine junge Frau da hört, ist: Die Besten sind keine Frauen. Die Besten sind Genies, und Genies sind männlich. Menschen wie mich gibt es in der Physik nicht, denkt sich die junge Frau. Sie kommen nicht vor in den Medien, sie kommen nicht vor im Lehrbuch, sie sind nicht Teil des Unterrichts. Und so zieht die junge Frau gar nicht erst in Betracht, Physik zu studieren. Außer sie wird speziell ermutigt. In meinem Jahrgang des Physikstudiums waren wir drei Frauen. Alle hatten wir einen Elternteil mit mathematisch-physikalischer Ausbildung. Uns wurde zu Hause Mut gemacht. Doch was ist mit all den anderen, die eigentlich das Talent für ein MINT-Fach hätten?

Jedes Kleinkind ist fasziniert von Natur und Technik. Löffel vom Tisch auf den Boden schmeißen, immer und immer wieder. Knöpfe drücken, Matschsuppe kochen, Türme bauen, Sternschnuppen gucken. Aber irgendetwas passiert auf dem Weg zum Erwachsensein, das vielen Mädchen diese Freude nimmt. Zumindest die Freude an allen Fächern, die nicht zu den Lebenswissenschaften gehören. Graduell, fast unmerklich sinkt der Spaßfaktor. Et voilà: Nur wenige Frauen werden Mechatronikerinnen, nur wenige studieren Informatik oder Maschinenbau. Bei der Physik stagniert die Zahl der Absolventinnen in Deutschland nach einer leichten Zunahme seit gut zehn Jahren bei etwa 20 Prozent. In der Schweiz sieht es nicht besser aus. Wieso ist das immer noch so? Ich hatte gehofft, wir würden inzwischen weiter sein.

»Nach Frauen muss man länger suchen. Das nervt. So wie es übrigens auch nervt, in der Redaktionskonferenz immer die Kollegin zu sein, die auf den Frauenmangel hinweist«Hanna Wick

Nicht, dass wir es nicht händeringend versuchen würden. Politik und Wirtschaft fordern ganz ausdrücklich mehr junge Frauen in MINT-Berufen. Zum Beispiel die deutsche Bundesbildungsministerin Anja Karliczek mit ihrem MINT-Aktionsplan. Denn erstens gibt es zu wenig Fachkräfte in diesem Bereich, und zweitens können Frauen in diesen Berufen mehr verdienen, was die Staatskasse entlasten würde. Doch trotz unzähliger Girls-Days, Tech-Ladies-Labs und Fraueninitiativen: So wirklich steigt der Frauenanteil nicht. Keine Frau wählt einen Beruf der Volkswirtschaft zuliebe. Appelle allein nützen nichts. Es muss Anreize geben für die Mädchen.

Beim Anreiz der tollen Vorbilder versagen wir schon mal, in der Schule und auch in den Medien. Noch immer gibt es zu viele Lektionen, zu viele Zeitungsartikel und Fernsehsendungen über MINT-Themen, in denen keine einzige Frau vorkommt. Klar, nach Frauen muss man länger suchen. Das nervt. So wie es übrigens auch nervt, in der Redaktionskonferenz immer die Kollegin zu sein, die auf den Frauenmangel hinweist.

Sexismus ist Teil des akademischen Lebens

Wir sollten das Feld nicht kampflos den Geschlechterstereotypen überlassen, die in unser aller Gehirnen sitzen. Denn Stereotype sind wie Zuckerwatte: knallig, verführerisch, verdammt klebrig. Sind sie einmal da, kriegt man sie fast nicht mehr weg. Bittet man Fünf- bis Achtjährige, eine forschende Person zu malen, so zeichnen sie beinahe gleich viele Frauen wie Männer. Doch je älter die Kinder werden, desto ungleicher wird das Bild. Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren malen nur etwa 25 Prozent Frauen, heißt es im neuesten MINT-Nachwuchsbarometer der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. In den Köpfen der meisten Jugendlichen sind typische Forschende männlich.

Das ist ein Problem, denn in der Pubertät verhalten sich Menschen besonders geschlechterkonform. Zugehörigkeit ist ein wichtiges Ziel. Wer will als Teenie schon Außenseiterin sein? Gerade dann also, wenn die Berufswahl oder die Wahl der Schwerpunktfächer im Gymnasium ansteht, wird es »unweiblich«, eine MINT-Laufbahn einzuschlagen. Noch immer steckt in den Köpfen das Bild des asozialen Nerds, der in seinem Labor einsam vor sich hin werkelt. Dass Forschung meist hochkommunikative Teamarbeit ist, dass Forscherinnen Kinder haben und Röcke tragen können, wenn sie wollen – bei den Mädchen scheint das irgendwie nicht anzukommen.

Wobei man leider sagen muss: Ganz so einfach ist das mit den Kindern und den Röcken für Forscherinnen ja auch noch nicht. In vielen MINT-Fächern gibt es noch immer kaum Professorinnen an den Unis. Die Gründung einer Familie knickt Frauenkarrieren nach wie vor stärker als die ihrer Ehemänner. Ebenso wie Sexismus noch immer Teil des akademischen Lebens ist – das zeigen die jüngsten Skandale an Hochschulen in Mexiko, den USA und der Schweiz. Vielleicht möchten einige Frauen auch deshalb nicht in einem stark männlich dominierten Feld arbeiten.

Oder aber sie trauen es sich schlicht nicht zu. Viele Studien zeigen, dass Mädchen sich in Mathematik, Physik und Informatik unterschätzen – obwohl sie in der Schule dieselben Leistungen bringen wie Jungen. Ihr Selbstbild hängt schief. Wohl auch, weil sie – wie Studien zeigen – von den Lehrpersonen weniger stringent bewertet werden als Jungen und weil ihre Eltern von ihnen gar nicht erwarten, gut in MINT zu sein. Das muss sich ändern.

In Deutschland studieren besonders wenige Frauen MINT-Fächer

Aber: Wollen wir das überhaupt? Wieso lassen wir Frauen nicht einfach Psychologie, Pflegewissenschaften oder Kunstgeschichte studieren, wenn sie das lieber möchten? Es ist doch ein Zeichen von Freiheit, seinen Beruf selbst wählen zu dürfen! Zu diesem Schluss kann kommen, wer Gijsbert Stoet und David Geary zuhört. Die beiden Psychologen zeigen in einer Studie: In Ländern wie Schweden und Deutschland, wo es wenig messbare Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gibt, studieren paradoxerweise besonders wenige Frauen MINT-Fächer.

In Ländern mit großer Ungleichheit wie etwa Algerien liegt der MINT-Frauenanteil dagegen deutlich höher. Vielleicht sind die MINT-Fächer dort beliebt, weil sie Frauen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Mancherorts werden die Frauen auch vom Staat je nach Talent einem Studiengang zugewiesen. Es gibt verschiedene Interpretationen des Resultats in diesen Ländern.

Warum aber zieht MINT im emanzipierten Europa nicht als Sprungbrett für Selbstbestimmung? Die beiden Psychologen glauben: weil die Frauen auf den wirtschaftlichen und emanzipatorischen Sprung nicht angewiesen sind – und sich ganz rational auf jene Themenbereiche konzentrieren, in denen sie am besten sind. Meistens sind das nicht MINT-Fächer. In diesen sind sie zwar im Durchschnitt gleich gut wie die Jungs. Doch in Sprachen zum Beispiel sind sie noch deutlich besser. In dieser Interpretation lassen die Frauen den Männern die MINT-Fächer quasi »übrig«.

»Deutlich über 30 Prozent Frauen sind in allen MINT-Fächern möglich, und zwar nicht erst in 100 Jahren«Hanna Wick

Das muss nicht sein. Denn es gibt genug klugen weiblichen Nachwuchs. Heute machen mehr Mädchen Abitur beziehungsweise Matur als Jungen. Ich glaube deshalb, dass auch wir im Westen viel mehr Mädchen für MINT begeistern könnten. Das Ziel muss nicht ein komplett ausgewogenes Geschlechterverhältnis sein. Aber deutlich über 30 Prozent Frauen sind in allen MINT-Fächern möglich, und zwar nicht erst in 100 Jahren. Ganz abgesehen davon sollten natürlich auch Jungen eine angemessene Förderung bekommen, zum Beispiel in Sprachfächern, um im Bildungsprozess nicht zurückzufallen – damit sie dieselbe Wahlfreiheit haben wie Mädchen. Damit auch sie sich für Berufe entscheiden können, die ihnen Spaß machen könnten, die sie sich aber vielleicht nicht zutrauen (oder die ihnen von der Gesellschaft nicht zugetraut werden).

Das Problem der Frauen ist, dass es heute schlicht keine echten Anreize für sie gibt, MINT zu wählen. Was können sie gewinnen, wenn sie Physik, Maschinenbau oder Informatik studieren? Mehr Lohn, das stimmt, aber Geld ist für die meisten jungen Menschen hier zu Lande nicht die Hauptmotivation, um eine bestimmte Ausbildung zu wählen. Können Frauen mit MINT ein lockeres Leben haben? Nein, denn andere Fächer fallen ihnen oft noch leichter. Verhilft ein MINT-Beruf ihnen zu einem höheren Status? Nein, denn MINT-Fächer gelten nach wie vor in vielen Gesellschaftsschichten als unsexy. Bringt MINT ein besseres Selbstvertrauen? Nein, denn aus Sicht von Frauen besteht die (leider nicht unbegründete) Gefahr, in diesen Fächern unfair benotet zu werden und mit geschlechtsspezifischen Vorurteilen kämpfen zu müssen. Keine Vorteile, nirgends.

»Es gibt kein Problem in der Wissenschaft, das von einem Mann gelöst werden kann, das nicht auch eine Frau lösen könnte«Vera Rubin

Man kann es jungen Frauen also nicht wirklich verübeln, wenn sie lieber eine Geistes- oder Sozialwissenschaft studieren oder einen sozialen Beruf erlernen. Aber einer an Fortschritt interessierten Gesellschaft kann die Sache nicht egal sein. »Es gibt kein Problem in der Wissenschaft, das von einem Mann gelöst werden kann, das nicht auch eine Frau lösen könnte«, schrieb die 2016 verstorbene Astrophysikerin Vera Rubin einmal. Oder anders formuliert: Frauengehirne sind eine der wichtigsten brachliegenden MINT-Ressourcen.

Und nun sind es nicht zuletzt MINT-Fächer, in denen viele der großen Herausforderungen unserer Zeit liegen – sei das nun Cyberkriminalität, Batterietechnik oder Klimawandel. Weil aber alle bisherigen Maßnahmen nur punktuell wirken, sollten MINT-Förderprogramme in Schulen breitflächig umgesetzt, besser koordiniert und auch evaluiert werden. Der neue Plan von Ministerin Karliczek geht hier in die richtige Richtung, ebenso wie die Pläne des Bundes in der Schweiz.

Manchmal braucht es eine gewisse Radikalität

Weniger imagefördernde Hochglanz-Einzelprojekte, mehr bodenständige Konsistenz – das wünsche ich mir bei der MINT-Förderung. Nur so können wir nachher sagen, dass wir es wirklich versucht haben. Wir brauchen einen langen Atem, und wir müssen an allen Schrauben drehen, selbst den kleinsten. In den Medien müssen endlich mehr MINT-Expertinnen zu Wort kommen. Und auch Kita-Fachleute und Primarlehrpersonen sollten mit ihren Kindern MINT machen. Denn frühe Förderung nützt allen, Mädchen und Jungen.

Bei Einzelinitiativen hingegen begrüße ich eine gewisse Radikalität. So, wie es die TU Eindhoven seit Juli 2019 vormacht: Hier dürfen sich für bestimmte akademische Positionen nur noch Frauen bewerben. Männer werden erst in Betracht gezogen, wenn sich sechs Monate lang keine geeignete Frau findet. Die Maßnahme ist umstritten und sicher keine Lösung für alle Hochschulen. Aber sie könnte helfen, den Anteil an Professorinnen an der Hochschule rasch zu erhöhen und so schnell für mehr weibliche Vorbilder zu sorgen.

Und was die Vorbilder im Klassenzimmer betrifft: Hallo IBM, wenn ihr ein neues, besseres Plakat entwerfen wollt, ruft mich an!

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