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Hemmer und Meßner Erzählen: Kleine Geschichte des Suffrajitsu

Wussten Sie, dass Frauen bis 1971 in der Schweiz kein Wahlrecht besaßen? Das ist umso erstaunlicher, als zu diesem Zeitpunkt schon seit gut 100 Jahren der Kampf um die politische Stimme tobte. Der Kampfgeist der Frauen, die zur Jahrhundertwende in Großbritannien um das Wahlrecht (suffrage) kämpften, ist berüchtigt. Dass manche Suffragetten auch asiatische Kampfkunst einsetzten, um ihre Rechte durchzusetzen, dürfte da auch nicht mehr überraschen. Zeit für eine kleine Geschichte des »Suffrajitsu«!
Schwarz-Weiß-Druck eines Gebäudes voller engagiert diskutierender Frauen.

Als 1903 die Bewegung WSPU (Women's Social And Political Union) gegründet wird, gehen dem schon gute sieben Jahrzehnte Anstrengungen für ein Frauenwahlrecht voraus. Es ging vorerst um ein allgemeines Wahlrecht, das Frauen einschließen sollte. Denn der britische »Great Reform Act« von 1832 erweiterte zwar das Wahlrecht, allerdings nur auf jede »male person« über 21, dessen Haushalt entweder mindestens 10 Pfund Miete pro Jahr zahlte oder Land besaß. Das schloss nicht nur Frauen, sondern zu großen Teilen auch die Arbeiterschaft aus. Anträge auf Änderung wurden immer wieder gestellt, die Diskussionen aber schnell abgewürgt.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Viele, auch wohlhabende, Frauen waren nicht nur vom Fehlen des Wahlrechts betroffen. Sie wurden bei der Ausbildung und nach Heirat vom Eigentumsrecht benachteiligt und durften bei öffentlichen Veranstaltungen nicht sprechen. In den folgenden Jahrzehnten entstanden einige Organisationen, die das zu ändern suchten. So stellte die Kensington Society der 1860er Jahre eine Petition mit 1500 Unterschriften, doch auch die »Second Reform Bill« 1867 brachte keine Verbesserung – das »male« blieb. Wie sich Frauen schließlich auch handgreiflich gegen die Benachteiligung wehrten, haben Mike Callan, Conor Heffernan und Amanda Spenn in ihrem Fachartikel »Women's Jūjutsu and Judo in the Early Twentieth-Century: The Cases of Phoebe Roberts, Edith Garrud, and Sarah Mayer« aufgearbeitet.

Kampfkunst zur Verteidigung gegen Männergewalt

In den Jahren zwischen 1870 und 1914 wurde fast jährlich im House of Commons für ein Frauenwahlrecht interveniert – mit demselben frustrierenden Ergebnis. Der Frust entlädt sich schließlich in öffentlichen Protesten. Angeführt von Emmeline Pankhurst und ihren beiden Töchtern Christabel und Sylvia werden von der WSPU vorerst Demonstrationen veranstaltet. 1908 versammeln sich über 500 000 Menschen im Londoner Hyde Park. Die Staatsgewalt wird handgreiflich, ebenso wie erboste Gegendemonstranten. Es werden sogar Banden engagiert, die zur Einschüchterung Frauen verprügeln.

1909 lädt die WSPU im Rahmen ihrer »Women's Exhibition« eine Frau ein, die sich mit ihrem Können in der alten japanischen Kampfkunst »Juujutsu« bzw. »Jiu Jitsu« einen Namen gemacht hat. Edith Garrud, geboren 1872, war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der »Women's Freedom League« (WFL), die sich zwei Jahre zuvor wegen Unmuts über den Führungsstil der WSPU abgespalten hatte. Die gerade 1,50 Meter große Kämpferin demonstrierte ihren Mitstreiterinnen jetzt eine Kampftechnik, die geradezu für die Auseinandersetzungen bei Demonstrationen gegen übermächtige Gegner gemacht schien. Sie bedient sich nämlich der Kraft und des Gewichts des Gegenübers.

Edith Garrud und der »New Terror of the Police«

So titelt 1909 das Magazin »Health And Strength« leicht ironisch in einem Artikel über ihre Jiu-Jitsu-Kurse. Garrud selbst betonte stets, dass es ihr nicht nur um Polizeigewalt ging. Sie fand zum Beispiel in ihrem Artikel »The world we live in« im WSPU-Magazin klare Worte für die Gewalt durch Männer, der Frauen auf Grund körperlicher Benachteiligung seit jeher ausgesetzt waren. Und das zu Hause ebenso wie auf der Straße, ob mit oder ohne politische Betätigung. Selbstverteidigung war ihre Antwort auf diese bis heute aktuelle weibliche Lebensrealität.

Garrud schrieb nicht nur ein Theaterstück mit dem Titel »Ju-Jutsu as a husband tamer«. Sie veranstaltete öffentliche Darbietungen, bei denen sie Männer aufforderte, sie anzugreifen, um sie dann mit Schlägen außer Gefecht zu setzen oder zu Boden zu werfen. Das öffentliche Interesse war groß und die Berichterstattung zum Teil auch wohlwollend. Gerade das zuvor genannte »Health And Strength« druckte später mehrere Artikel und Bilderstrecken ab, in denen gezeigt wurde, wie Frauen Männer überwältigen können.

Selbst kam Garrud vermutlich gemeinsam mit ihrem Mann William im späten 19. Jahrhundert mit dem Kampfsport in Kontakt. Der lehrte ursprünglich »Bartitsu«, benannt nach dem Briten Edward William Barton-Right, der Jiu-Jitsu bei einem Aufenthalt in Japan kennen gelernt und adaptiert hatte. Er holte japanische Meister nach Großbritannien und beeindruckte mit deren Vorführungen das Publikum. Die Garruds übernahmen von Meister Sadazuku Uyenishi nach Ausbildung bei ihm sein Londoner Dojo »Golden Square School«, das nun einen regelrechten Ansturm erleben sollte.

Die Gewalt eskaliert

Im Dojo gab es regelmäßige Kurse für Mitglieder der WSPU. Die brauchte es auch: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Auseinandersetzungen um das Frauenwahlrecht immer heftiger. Protestierende wurden verletzt und teils inhaftiert, bei Hungerstreik wurde brutal zwangsernährt. Auch auf Seiten der Suffragetten gab es Eskalationen wie Vandalismus, Brandstiftung und Bombenlegen, auch Todesfälle. Garruds Dojo wird für manche zum Zufluchtsort, sie versteckt WSPU-Mitglieder vor der Polizei. Wer nach Brandstiftungen oder Zusammenstößen zu ihr flüchtet, erhält Trainingskleidung und trainiert fleißig als Alibi.

1913 wird der WSPU BODYGUARD als Reaktion auf den »Cat and Mouse Act« gegründet, der es inhaftierten Suffragetten in Hungerstreik erlaubte, entlassen zu werden, um zu Hause wieder zu Kräften zu kommen. Danach wurden sie abgeholt, um den Rest abzusitzen – was eben dieser Bodyguard, bestehend aus etwa 30 Frauen, zu verhindern suchte. Inhaftierungen konnten sie nur selten abwehren, sie schützten aber Frauen auch bei öffentlichen Veranstaltungen. Der berühmteste Fall dürfte der »Battle Of Glasgow« am 9. März 1914 sein, als Polizisten die Rednerin Emmeline Pankhurst vor mehr als 4000 Teilnehmenden nur nach schwerem Gefecht mit ihren Bodyguards vom Podium ziehen konnten. Ein gefundenes Fressen für die Presse und die Geburtsstunde des Begriffs »Suffrajitsu«! Gekämpft wurde übrigens weiter, weshalb einige britische Frauen nach dem Krieg 1918 erstmals an die Wahlurne treten durften.

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