Freistetters Formelwelt: Volkszählung im Sternen-Kindergarten
Wenn ein Kind geboren wird, fragt man – nachdem man sich nach dem Gesundheitszustand von Neugeborenem und Mutter erkundigt hat – meist zuerst nach dem Gewicht. Aber im Gegensatz zu Menschen, bei denen die zukünftige Entwicklung von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, ist die Geburtsmasse eines Sterns tatsächlich eine fundamentale Größe. Lebensdauer, Farbe, Leuchtkraft, Temperatur: All das und noch weit mehr hängt direkt von der Masse eines Sterns ab.
Ein Stern entsteht aus einer Gaswolke, die unter ihrer eigenen Gravitation kollabiert: So erklärt man das Phänomen meistens in allgemein verständlichen Darstellungen. Tatsächlich ist das aber fast unzulässig verkürzt, denn wäre das schon alles, müsste man ja einfach nur die Gaswolken beobachten, die sich derzeit noch überall im Kosmos befinden, um eine gute Idee davon zu bekommen, welche Geburtsmassen Sterne üblicherweise haben. In der Realität sind die Wolken der Sternentstehungsgebiete aber gewaltig und ihr Kollaps bringt tausende Sterne auf einmal hervor. Und es stellt sich die Frage: Wie viele Sterne welcher Masse werden dabei gebildet?
Der Erste, der sich an einer Antwort versucht hat, war der österreichisch-amerikanische Astrophysiker Edwin Salpeter. 1955 leitete er folgende Funktion ab:
Die Zahl dN der Sterne (pro Volumeneinheit), deren Massen bei der Geburt zwischen m+dm liegt, hängt vom Exponenten q ab, den Salpeter aus Beobachtungsdaten zu 2,35 bestimmte. Mittlerweile weiß man, dass diese »ursprüngliche Massenfunktion« – oder »Initial Mass Function«, IMF – ein wenig komplexer ist. Sie lässt sich nicht als einfaches Potenzgesetz schreiben; man muss für unterschiedliche Sternmassen unterschiedliche Exponenten verwenden. Heute verwendet man meistens die Funktion, die der Bonner Astronom Pavel Kroupa aufgestellt hat. Für Sterne, deren Masse größer als die halbe Sonnenmasse ist, beträgt q = 2,3. Darunter muss aber ein q von 1,3 verwendet werden, und bei noch masseärmeren Sternen von weniger als 0,08 Sonnenmassen sinkt q auf 0.3.
Sterne schalten keine Geburtsanzeigen
Das mag alles nach sehr technischen astronomischen Details klingen. Was einerseits stimmt; andererseits hat die ursprüngliche Massenfunktion fundamentale Bedeutung für unser Verständnis der Entwicklung des Universums. Da ist zum Beispiel die Frage nach der Unveränderlichkeit der Funktion. Kann man die Entstehung von Sternen im frühen Universum mit der gleichen Massenfunktion beschreiben wie heute? Benötigt man eine andere Gleichung, wenn man die Geburt von Sternen in anderen Galaxien verstehen will? Ist sie eine empirische Beschreibung oder ein Naturgesetz?
Bis jetzt sind die Hinweise auf systematische Veränderungen in der ursprünglichen Massenfunktion unklar. Wir können die Sterne anderer Galaxien nur schwer beobachten und dazu kommt, dass – wie die Funktion zeigt – Sterne mit großer Masse sehr viel seltener entstehen als Sterne geringer Masse. Je mehr Masse ein Stern hat, desto größer ist aber auch die Temperatur in seinem Zentrum, und damit steigt auch die Rate der dort stattfindenden Kernfusion. Oder anders gesagt: Je mehr Masse ein Stern hat, desto schneller hat er seinen Brennstoff verbraucht und beendet sein Leben. Zwergsterne können Milliarden und Billionen Jahre lang leuchten; die Riesen sind nach ein paar Millionen Jahren schon wieder verschwunden.
Am unteren Ende der Skala haben wir ebenfalls ein Problem: Irgendwann hat ein Stern zu wenig Masse und Temperatur, um Wasserstoff für längere Zeit zu Helium zu fusionieren. Dann entsteht ein »Brauner Zwerg«, der nur für vergleichsweise kurze Zeit andere Fusionsreaktionen zu Stande bringt, dementsprechend schwach leuchtet und schwer zu sehen ist. Wegen solcher Probleme fehlen uns schlicht die Daten, um die ursprüngliche Massenfunktion mehr als nur näherungsweise zu bestimmen. Sterne schalten leider keine Geburtsanzeigen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben