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Freistetters Formelwelt: Ein Damm zwischen zwei Ozeanen

Oscars, Top-10-Hits oder ein Eintrag auf der Bestsellerliste: Was anderswo für Prominenz sorgt, spielt in der Wissenschaft selten eine Rolle. Hier findet man den Ruhm an anderer Stelle.
Große Welle (Symbolbild)
Ein »Sverdrup« entspricht einem Volumenstrom von einer Milliarde Litern pro Sekunde.

Wissen Sie, was den Franzosen André-Marie Ampère und den Briten William Thomson verbindet? Gut, beide waren Physiker und beide lebten im frühen 19. Jahrhundert (auch wenn Ampère schon 1836 starb und Thomson erst 1824 geboren wurde). Aber ich will darauf hinaus, dass es die beiden einzigen Menschen sind, deren Namen zu einer Basiseinheit des Internationalen Einheitensystems (SI) geworden sind.

Mit »Ampere« wird die elektrische Stromstärke gemessen und mit »Kelvin« die Temperatur (Lord Kelvin war ein Adelstitel, den Thomson später in seinem Leben erhielt). Die restlichen Basiseinheiten (Sekunde, Meter, Kilogramm, Mol und Candela) sind nicht nach Menschen benannt. Natürlich gibt es auch jede Menge daraus abgeleitete Einheiten, von denen fast alle den Namen eines Wissenschaftlers tragen (und keine den Namen einer Wissenschaftlerin). »Newton« für Kraft, »Hertz« für Frequenz, »Watt« für Leistung und so weiter. Unter den Einheiten, die nicht Teil des Internationalen Einheitensystems sind, findet man noch viel mehr Forscher (und bei der veralteten Einheit »Curie« für die Aktivität eines radioaktiven Stoffs zumindest auch eine Forscherin).

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Das Internationale Einheitensystem ist ohne Zweifel von großer Bedeutung für die Wissenschaft. Ohne verbindliche und klar definierte Einheiten sind keine nachvollziehbaren Messungen möglich – und damit auch keine sinnvolle Forschung. Ich mag die anderen Einheiten trotzdem, denn dort findet man meistens jede Menge spannende Geschichten, wie bei dieser Definition:

Damit ist nicht die Einheit »Sievert« für die Äquivalentdosis im Strahlenschutz gemeint (und auch nicht der Sedimentationskoeffizient »Svedberg«). Die Formel zeigt die in der Ozeanografie verwendete Einheit für Volumenströme: Ein »Sverdrup« entspricht einem Volumenstrom von einer Milliarde Litern pro Sekunde. Würden zum Beispiel die Gletscher Grönlands mit dieser Rate abschmelzen, würde der Meeresspiegel pro Jahr um 8 Zentimeter ansteigen und nach 90 Jahren wäre Grönland eisfrei. Benannt ist die Einheit nach dem norwegischen Ozeanografen Harald Ulrik Sverdrup, dessen 1942 veröffentlichtes Buch »The Oceans« lange das Standardwerk der Disziplin war.

Die Beringstraße schließen

Ihren Ursprung hat die Einheit in einem aus heutiger Sicht kuriosen Vorhaben: In den 1950er Jahren dachte man in den USA und der Sowjetunion darüber nach, die Beringstraße künstlich zu schließen. Durch das Eindämmen der Meerenge zwischen Alaska und Sibirien wollte man verhindern, dass kaltes Wasser aus dem Pazifik in das Nordpolarmeer fließt. Das verbleibende, wärmere Atlantikwasser sollte Sibirien, Alaska und das nördliche Kanada freundlicher machen.

Um die Auswirkungen so eines gewaltigen Eingriffs abschätzen zu können, muss man verstehen, wie sich dabei die Meeresströmungen verändern. Bei den entsprechenden Berechnungen stieß der kanadische Ozeanograf Maxwell Dunbar immer wieder auf strömende Wassermengen in der Größenordnung von Millionen Kubikmetern pro Sekunde. Um die Formeln übersichtlicher zu machen, schlug er vor, dafür eine eigene Einheit zu verwenden und sie nach Sverdrup zu benennen.

Der Damm in der Beringstraße wurde (glücklicherweise) nicht gebaut; aber die Einheit Sverdrup blieb und wird bis heute in der Ozeanografie verwendet. Nicht nur, um Meeresströmungen zu messen, sondern vor allem, um ihre Veränderungen zu untersuchen. Im aktuellen Bericht des Weltklimarats wird zum Beispiel eine Abschwächung des Nordatlantikstroms (zu dem auch der Golfstrom gehört) prognostiziert, und in den entsprechenden Diagrammen ist selbstverständlich die Einheit »Sverdrup« zu finden. Apropos: Es gibt Menschen, die gerade wieder anfangen, über einen Damm in der Arktis nachzudenken. Diesmal allerdings, um die Arktis daran zu hindern, sich weiter zu erhitzen.

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