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Hirschhausens Hirnschmalz: Gähn-Diagnostik

Eckart von Hirschhausen

Woran erkennt man echte Experten? Daran, dass sie zu ihrem Thema mehr Fragen ­haben als vorschnelle Antworten. Denn je besser man sich mit einer Sache auskennt, desto klarer sieht man die Lücken. Ulrich Hegerl ist so ein Experte. Der Depressionsforscher interessiert sich fürs Gähnen. Klingt erst mal nicht so spannend. Aber was wissen Sie, liebe Leser, denn schon da­rüber? Gähnt man aus Langeweile? Nein, widerlegt! Aus Sauerstoffmangel? Nein, auch widerlegt. Fakt ist: So richtig überzeugt bislang keine Theorie. Und wie Sherlock Holmes einmal einen Fall gelöst hat, weil ein Hund nicht bellte, interessiert sich Hegerl für die Frage, ob Depressive womöglich weniger gähnen als andere. Und ob das diagnostisch was hilft. Denn wenn das Gähnen in der Therapie zurückkehrt, muss das keine Nebenwirkung der Medikamente sein – vielleicht ist der gestörte Schlaf-wach-Rhythmus wieder im Lot. Aber eins nach dem anderen.

Für mich drückt Gähnen …

  1. A) Langeweile aus.
  2. B) Tränendrüsen aus.
  3. C) Taktlosigkeit aus.
  4. D) Uuuahhh!

Es gibt praktisch nur eine Veröffentlichung zu dem Thema. Und die ist auch noch methodisch wacklig, weil sie auf Patienten-Postings im Inter­net beruht. Aber sie stellt populäre Annahmen auf den Kopf, und das allein macht den Ansatz spannend. Periodisch wird in Deutschland über Depression nachgedacht, und dann tun viele so, als wüssten sie, was das ist. Und was man dann fühlt und denkt und tut. Zum Beispiel fühlt sich ein Depressiver dem Klischee nach schlapp und müde. Auf einen Großteil der Erkrankten trifft das aber gar nicht zu. Sie sind ausgelaugt vom rastlosen inneren Antrieb, der ins Leere läuft. Die Patienten sind quasi permanent übererregt. Depression ist Stress für den ganzen Körper, geht mit Bluthochdruck, Verspannungen, beschleunigtem Puls und massiv verkürzter Lebenserwartung einher. Im Hirn geben vor allem die noradrenergen Zellen des Locus coeruleus keine Ruhe.

Dazu passt die Beobachtung, dass schwer Depressive weniger gähnen. Wenn sie sich zurückziehen und Reize meiden, kann man das als Versuch einer Regulation deuten. Vermehrtes Gähnen wird oft als Nebenwirkung der Antidepressiva beschrieben, auch in den Beiträgen in Internet­foren. Vielleicht ist es aber gar keine Nebenwirkung, sondern zeigt an, dass die Hauptwirkung einsetzt: Die übererregten Hirnzentren entspannen sich. Spannend, finde ich. Und ein Feld, das dringend mehr Forschung braucht – zur Gähn­diagnostik und Gähn-Therapie-Erfolgskontrolle.

Hegerls Gruppe in Leipzig testet gerade eine App, die einem daheim sanft den Schlaf entzieht, um die Stimmung aufzuhellen. Nicht wie in der Klinik gleich die ganze Nacht, sondern nur stundenweise am Morgen. Junge Eltern brauchen dazu keine App, aber das ist ein anderes Thema. Viele Eltern stellen ja schon pränatal bei ihren Kindern Hochbegabung fest, wenn das Kleine im Mutterleib gähnt – es ist geistig total unterfordert! Katzen, Hunde und Fische gähnen übrigens auch. Kein Wunder, so ein Tag im Fischglas kann schon mal lang werden. Der Mensch kann immerhin GuG lesen, ohne zu gähnen hoffentlich. Dafür werden Fische nicht depressiv, soweit wir das beurteilen können. Aber man steckt nicht drin in deren Wasser. Vielleicht ist alles anders, als es scheint, und auch die Schwarmintelligenz ist mal am Boden. Mal den Experten fragen.

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  • Quellen

Hensch, T. et al.: Yawning in Depression: Worth Looking into. In: Pharmacopsychiatry 48, S. 118 – 120, 2015

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