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Freistetters Formelwelt: Wie das Universum zur Ruhe kommt

Auch wenn die Gravitation schwach ist, bestimmt sie das Schicksal ganzer Galaxien. Ihre entspannende Wirkung zeigt sich nur mit viel Zeit und Geduld.
Der Ausschnitt zeigt Galaxien, die mit dem Weltraumteleskop Euclid beobachtet wurden.
Links sind Galaxien, die einige hundert Millionen Lichtjahre entfernt sind und miteinander durch die Gravitation wechselwirken. Rechts ist der noch weiter entfernte Galaxienhaufen Abell 3381 zu sehen.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Gravitationskraft ist die Kraft, die das Universum zusammenhält. Verglichen mit den anderen Grundkräften der Natur ist sie zwar extrem schwach, aber ihre Reichweite ist unendlich groß. Und im Gegensatz zur ebenfalls unendlich weit reichenden elektromagnetischen Kraft gibt es keine unterschiedlichen gravitativen »Ladungen«, die sich gegenseitig aufheben können. Alles, was eine Masse besitzt, zieht sich gegenseitig an. Deswegen gibt es im Kosmos so gewaltige Strukturen wie Galaxien, die aus Milliarden von Sternen bestehen. Oder Galaxienhaufen, in denen sich tausende Galaxien gegenseitig gravitativ beeinflussen.

In der Realität ist die Dynamik in solchen Systemen aber etwas komplexer und eine wichtige Rolle bei ihrem Verständnis spielt die so genannte Relaxationszeit:

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Stellen wir uns eine Galaxie voller Sterne vor. Ein einzelner Stern wird bei seiner Bewegung durch das Gravitationspotenzial beeinflusst, das von allen Massen in der Galaxie zusammen erzeugt wird. Darüber hinaus wird er aber auch von einzelnen Sternen gravitativ beeinflusst, die sich in seiner Nähe befinden. Jedes Mal, wenn es zu einer nahen Begegnung mit einem anderen Stern kommt, gibt es eine kleine Störung. Dadurch ändert sich die Geschwindigkeit des Sterns – und die Relaxationszeit beschreibt, wie lange es dauert, bis der Stern seine ursprüngliche Geschwindigkeit quasi »vergessen« hat. Oder, mathematisch etwas exakter ausgedrückt: bis die durch die vielen Störungen verursachte Änderung der Geschwindigkeit in derselben Größenordnung liegt wie die Geschwindigkeit selbst.

Der erste Bruch in der Gleichung gibt die Anzahl der nahen Begegnungen an. Er hängt davon ab, wie viele Sterne N es in der Galaxie gibt. Der zweite Bruch beschreibt die Kreuzungszeit, also wie lange der Stern braucht, um die Galaxie einmal zu durchqueren (das hängt von deren Radius R und der Geschwindigkeit v ab).

Bei Sternhaufen liegt die Relaxationszeit in der Größenordnung von einigen dutzend bis hundert Millionen Jahren, bei dichteren Kugelsternhaufen können es auch Milliarden Jahre sein. Bei Galaxien ist die Relaxationszeit üblicherweise größer als das bisherige Alter des Universums.

Wie entspannt sind Sternensysteme?

Das ist wichtig, wenn man die dynamischen Unterschiede zwischen diesen beiden Arten von Sternsystemen verstehen will. Typische Sternhaufen sind älter als ihre Relaxationszeit. Das bedeutet, dass sie »entspannt« sind, also dass ihre Dynamik von den vielen kleinen gravitativen Störungen durch Begegnungen zwischen den Sternen geprägt ist. Im Laufe der Zeit wird so Energie zwischen den Sternen ausgetauscht. Die leichteren Sterne erhöhen ihre Geschwindigkeit und können den Sternhaufen verlassen. Massereiche Sterne hingegen »sinken« in den Kern des Sternhaufens, der dadurch immer dichter wird. So könnten die immer noch nicht ganz verstandenen mittelschweren Schwarzen Löcher entstehen, die zu viel Masse haben, um direkt aus dem Kollaps eines Sterns gebildet zu werden, aber deutlich leichter sind als die supermassereichen Schwarzen Löcher in den Zentren der Galaxien.

Eine Galaxie hat eine Relaxationszeit, die größer als ihr Alter ist. Hier ist der Einfluss der nahen Begegnungen zwischen Sternen gering und die Dynamik wird durch das Gravitationsfeld der gesamten Galaxie dominiert. Es gibt keine räumliche Trennung von massereichen und massearmen Sternen – beziehungsweise es gibt sie jetzt noch nicht. Es wird sie erst geben, wenn ausreichend viel Zeit zur Entspannung der Galaxie vergangen ist.

Wenn wir verstehen wollen, wie sich die großen Strukturen im Universum entwickelt haben und wie sich Sternhaufen und Galaxien im Laufe der Zeit verändern, dann müssen wir wissen, wie entspannt die jeweiligen Systeme gerade sind. Und wenn man eine riesige Galaxie ist, dann kann das schon mal ein paar Billionen Jahre lang dauern.

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