Sex matters: Über Genitalien – eine Ode an die Vielfalt

»Ich fühle mich unwohl, wenn mein neuer Freund mich unten berührt oder anschaut. Weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht so aussehe wie andere Frauen. Ich habe mal in Pornos geschaut, weil ich sonst einfach gar keine Bilder gefunden habe – und ich glaube, bei mir stimmt was nicht. Meine Schamlippen sind viel größer als in den Videos. Jetzt frage ich mich, was mein Freund denkt, wenn er mich ansieht.« (Berufsschülerin, anonym, 19 Jahre alt)
Wenn ich mit Menschen über ihre Genitalien spreche, höre ich oft die Frage: Ist das normal, was ich da habe? Eigentlich müsste ich dann antworten: Sorry, aber nein. Denn »normal« gibt es nicht. Wir leben bloß in einer Welt, die für alles Normen festlegen will – auch für unsere intimsten Körperteile. Selbst die Wissenschaft liebt Durchschnittswerte. Dabei ist die Wahrheit viel einfacher und schöner: Jedes Genital ist anders. In Form, Größe, Farbe und auch Geruch. Das ist keine Abweichung, sondern Vielfalt.
Fragen zu den Genitalien stellen mir Menschen jeden Alters. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Ältere. Die Berufsschülerin stellte ihre Frage anonym im Rahmen eines Projekts. Vermutlich hatte sie schon einmal in der Schule Aufklärungsunterricht; der Lehrplan sieht das jedenfalls vor. Bestimmt kannte sie 2-D-Querschnitte und schematische Darstellungen. Fortpflanzung, Verhütung, sexuell übertragbare Infektionen: Auch davon hatte sie sicher gehört. Aber die Diversität von Vulven und Penissen? Darüber wurde sie nicht aufgeklärt. Das Thema ist nicht vorgesehen, weder in der Schule noch in der Erwachsenenbildung. Und weil wir unser aller Genitalien im Alltag nicht sehen – anders als unser Gesicht oder unsere Hände –, ist uns ihr Anblick wenig vertraut. Was wir nicht regelmäßig sehen, können wir aber auch nicht als normal empfinden.
Wo suchen Menschen dann Orientierung? Vielleicht bei anderen Körpern. Doch da gibt es nicht viele Möglichkeiten. In der Sauna oder Umkleide wäre neugieriges Anstarren grenzüberschreitend. Also schauen Menschen im Internet nach und landen bei Pornografie. Dort werden jedoch Körper gezeigt, die einem sehr eingeschränkten Ideal entsprechen.
Genitalien in ihrer natürlichen Vielfalt
Mit diesem Idealbild ist es wie mit einer Erdbeere in der Joghurtwerbung. Die hat exakt das richtige Rot, ist prall, groß – also erdbeermäßig einfach perfekt. Aber haben Sie mal Erdbeeren auf dem Feld gepflückt? Da gibt es kleine und große, herzförmige und schrumpelige Früchte, und es gibt sie in vielen verschiedenen Farbtönen. Mit anderen Worten: eine riesige Vielfalt. Penisse und Vulven sehen wir jedoch nirgendwo in dieser natürlichen Vielfalt. Deswegen denken manche Menschen, ihre Vulvalippen seien zu groß oder ihr Penis sei zu klein oder zu krumm.
So kommen Menschen in eine Selbstabwertung. Manche können sich nicht vorstellen, dass jemand ihre Genitalien schön finden könnte. Das kann Folgen haben: Wenn ich mich für meinen Körper schäme, kann ich mich beim Sex auch nicht entspannen.
Die Entstehungsgeschichte unserer Genitalien ist ziemlich faszinierend. Eine wissenschaftliche Tatsache, die vielen nicht bewusst ist: Penis und Klitoris entwickeln sich aus ein und derselben embryonalen Anlage. Sie sind verwandt. Beide haben Schwellkörper und werden bei Erregung durch verstärkte Durchblutung größer. Bei Penissen ist die Erektion sichtbar. Bei der Klitoris schwillt das gesamte Organ an, Eichel und Schenkel füllen sich mit Blut. Das passiert größtenteils im Inneren des Körpers und ist von außen weniger sichtbar.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in seiner Kolumne »Sex matters«. Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Diese Verwandtschaft erklärt auch, warum es nicht nur zwei klar getrennte Formen von Genitalien gibt. Manche Menschen werden mit intergeschlechtlichen Genitalvarianten geboren – also mit körperlichen Merkmalen, die nicht eindeutig als männlich oder weiblich einzuordnen sind. Diese Vielfalt ist kein Fehler der Natur, sondern Ausdruck dessen, wie flexibel und vielfältig sich der menschliche Körper entwickeln kann. Genau wie die Größe, Form und Farbe von allen Penissen und Vulven auf dieser Welt.
Aber statt diese Individualität zu feiern, setzen Menschen auf das Skalpell. Genitaloperationen sind ein weltweiter Milliardenmarkt. Besonders beliebt bei Frauen: die Schamlippenkorrektur. Und die Kundinnen sind jung: Fast die Hälfte der Patientinnen, die genitale Schönheitsoperationen machen lassen, sind erst 18 bis 34 Jahre alt. Nummer eins der Genital-OPs bei den Männern: die Penis-Vergrößerung. Aber inzwischen liegt auch die Hodensackstraffung im Trend.
Dabei ist es beim Sex Nebensache, auf welcher Höhe die Hoden baumeln. Und kein Orgasmus wird dadurch besser, dass die Vulvalippen gestrafft sind. Im Gegenteil. Studien belegen, dass das Streben nach den perfekten Genitalien mit dem Selbstwertgefühl zusammenhängt. Wer mit dem eigenen Genital unzufrieden ist, hat weniger Lust – und der Sex ist besser, wenn das Selbstbild positiv ist. Der Haken an der Sache: Sind die Zweifel erst mal da, verschwinden sie nicht so einfach wieder.
Der Umgang mit Scham gehört zur Lust dazu
Es gibt viele Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass ihr Partner ihre Genitalien okay findet. Selbst wenn der Partner sagt: »Aber du siehst doch schön aus.« Denn Scham lässt sich nicht wegreden. Nach meiner Erfahrung hilft Akzeptanz: »Ich nehme das ernst, was du fühlst. Was brauchst du von mir, damit wir trotzdem eine erfüllte Sexualität haben können?«
Der Umgang mit Scham gehört zur Lust dazu. Die Lösungen können ganz konkret sein. Gedämpftes Licht statt Tageshelligkeit, Kerze statt Lampe. Vielleicht ist es ein BH, der beim Sex anbleibt, weil sich jemand damit einfach wohler fühlt. Vielleicht ist es eine Hand, die erst über den Stoff der Unterhose streichelt, bevor sie direkten Kontakt sucht. All das sind ganz praktische Wege, Grenzen zu respektieren und trotzdem Nähe zu ermöglichen.
Das Wissen über die Vielfalt der Genitalien nimmt den Druck raus. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, sondern viele Wege zur Lust. Was normal ist, findet jeder Mensch am besten für sich selbst heraus.
Und nun sind Sie dran!
Stellen Sie sich einer Person gegenüber, die Ihnen vertraut ist. Schauen Sie sich 30 Sekunden lang schweigend an. Kein Lächeln erzwingen, kein Smalltalk. Einfach nur schauen. Dann tauschen Sie sich aus: Was haben Sie gesehen und wahrgenommen? Nicht bewertend, sondern beschreibend. »Mir ist aufgefallen, dass deine Haltung ruhig war« oder »Ich habe mich unwohl gefühlt, weil ich mich selbst nicht so gern ansehen lasse.« Fragen Sie sich: Was fällt mir leicht oder schwer, wenn jemand mich wirklich ansieht?
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben