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Freistetters Formelwelt: Das Beinahe-Rad

Diese geometrische Form hat einige erstaunliche Eigenschaften und Fähigkeiten. Unter anderem kann man mit ihr quadratische Löcher bohren, und sie rollt wie ein Rad - jedenfalls fast.
Gitarrenhals mit blauem Plektrum auf den Saiten.

Ein Gleichdick ist eine Figur, die überall gleich dick ist. Und auch wenn dieses Wort sehr seltsam klingt, gehört es doch zum Inventar der Mathematik. Dennoch sind ein bisschen mehr Details nötig, wenn man verstehen will, worum es sich handelt. Mit »gleich dick« ist hier die Breite einer Kurve gemeint, und die wird durch zwei parallele Geraden definiert. Eine berührt die Figur, um die es geht, an einem Punkt, die zweite am gegenüberliegenden Punkt. Der Abstand zwischen diesen Geraden ist die Breite, und wenn er immer denselben Wert hat, egal an welcher Stelle der Figur man die Parallelen zeichnet, dann erhält man ein Gleichdick.

Für solche Objekte gilt der durch diese Formel ausgedrückte Satz von Barbier:

Gefunden hat sie der französische Mathematiker Joseph-Émile Barbier im 19. Jahrhundert. Sie besagt, dass der Umfang U eines Gleichdicks gleich seiner Breite b multipliziert mit der Zahl Pi ist. Oder anders gesagt: Der Umfang entspricht dem eines Kreises, dessen Durchmesser gleich der Breite des Gleichdicks ist.

Das einfachste Beispiel für ein Gleichdick ist ein Reuleaux-Dreieck. Man kann es konstruieren, indem man ein gleichseitiges Dreieck zeichnet und dann von jedem Eckpunkt einen Kreisbogen zieht, der durch die beiden gegenüberliegenden Ecken verläuft. Die drei Kreisbögen zusammen bilden das Dreieck, und man kann damit jede Menge interessante Sachen machen. Lässt man zum Beispiel so eine Gleichdickfigur in einem Quadrat rotieren, dann wird sie zu jedem Zeitpunkt alle vier Seiten berühren und sich niemals außerhalb des Quadrats befinden.

Ein Rad mit Ecken

Das hat die Erfindung eines Bohrers inspiriert, der mit einem Bohrkopf in der Form eines Reuleaux-Dreiecks ein fast quadratisches Loch bohren kann. Es ist deshalb nicht wirklich quadratisch, weil die Kreisbögen in einem Winkel von 120 Grad aufeinandertreffen und darum nicht vollständig in die rechtwinkligen Ecken des Quadrats eindringen können. Aber fast ist besser als gar nicht, weswegen heute zum Beispiel Staubsaugerroboter erhältlich sind, die die Form eines Gleichdicks haben, um möglichst viel Staub aus Zimmerecken entfernen zu können.

Auch viele Bleistifte werden mit dem Querschnitt eines Reuleaux-Dreiecks konstruiert. Sie sollen sich besser greifen lassen als runde oder sechseckige Modelle. Und sie rollen nicht so leicht vom Schreibtisch, da sich der Mittelpunkt des Gleichdicks und damit der Schwerpunkt des Stifts bei einer Rollbewegung stärker auf- und abbewegt als etwa bei einem sechseckigen Schreibgerät. Aus ebendiesem Grund wäre es auch schwer, ein Gleichdick als Ersatz für ein Rad zu verwenden. Es würde zwar rollen, die Fahrt wäre allerdings ziemlich holprig. Was den Sciencefiction-Autor Poul Anderson aber nicht daran gehindert hat, den Held seiner 1963 erschienenen Kurzgeschichte »Das dreieckige Rad« genau so eines erfinden zu lassen. Zweck war es, die religiösen Tabus einer fundamentalistischen Gesellschaft mitsamt Verbot von Rädern zu umgehen.

In der echten Welt hat es dagegen niemand für nötig befunden, Fahrräder mit eckigen Reifen zu entwickeln. Zumindest, bis 2009 ein chinesischer Erfinder eines gebaut hat. Es sei anstrengend und unbequem zu fahren, berichtete er, und eine Geschwindigkeit von mehr als sieben Kilometern pro Stunde nicht zu erreichen. Doch dafür eigne es sich gut als Trainingsgerät. Durchgesetzt hat sich seine Erfindung allerdings trotz aller mathematischen Finesse nicht. Wesentlich besser geeignet ist das Gleichdick als Form für Münzen. Im Vergleich zu runden Geldstücken spart man ein wenig Material ein; sie rollen jedoch genauso gut durch Münzschlitze.

Gleichdicke sind Objekte mit einem seltsamen Namen. Aber überraschend vielseitig einsetzbar.

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