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Grams' Sprechstunde: Pandemie zu Ende, Entspannung angesagt?

Umfangreiche Lockerungen, ein neues Infektionsschutzgesetz: Ist die Pandemie zu Ende oder wird sie für beendet erklärt? Es war kaum jemals schwieriger als jetzt, die Pandemielage vernünftig einzuschätzen, findet unsere Kolumnistin Natalie Grams-Nobmann.
Weg mit den Masken?

Der »Freedom Day« liegt hinter uns, ein neues Infektionsschutzgesetz vor uns, und die Zahl der Neuinfektionen ist hoch wie nie. Und jetzt? Wo die einen »Na endlich!« sagen, sind andere skeptisch. Überoptimisten gegen Miesmacher? Nach zwei Jahren Pandemie sollten wir das ja nun so langsam besser einordnen können. Doch es ist schwerer denn je! Klar ist: Wo die einen die Situation mehr aus der wissenschaftlich-medizinischen Perspektive betrachten, sehen die anderen sie eher aus einem gesellschaftlich-politischen Blickwinkel.

Auch ich bin zwiegespalten. Klar, einerseits bin ich erleichtert. Ich bin aber andererseits besorgt, wenn ich als Ärztin über die Situation nachdenke. Kann ich mich wirklich entspannen, während noch immer viele, zu viele Menschen ungeschützt vor einer Infektion und einem schweren Verlauf sind? In allen Altersgruppen?

Bei zahlreichen anderen Geimpften stehen wahrscheinlich ebenfalls Sorgen gegen Leichtsinn. Man ist nun doch persönlich gegen schwere Verläufe und Tod geschützt und kann sich wieder frei bewegen, oder nicht? Christian Drosten beschreibt das in einem Interview so: »Die jungen, dreifach Geimpften (…) bauen, wenn sie sich infizieren, Immunität auf, auch für die Gemeinschaft. Natürlich gibt es Long Covid, aber bei Geimpften deutlich seltener. Infektionen auf dem Boden der vollständigen Impfung – das ist keine Durchseuchungsstrategie.«

Was kann die moderne Medizin leisten? Nutzt die Homöopathie? Was macht einen guten Arzt aus, und welche Rolle spielt der Patient? Die Ärztin und Autorin des Buchs »Was wirklich wirkt« Natalie Grams diskutiert in ihrer Kolumne »Grams' Sprechstunde« Entwicklungen, Probleme und eklatante Missstände ihrer Zunft. Alle Teile lesen Sie hier.

Also Entspannung? Doch halt: Vergessen wir damit nicht Ältere, Vorerkrankte und Kinder? Und übersehen wir damit nicht eine ganze Reihe von Gründen gegen die »Infektion für alle«? Mir zumindest fällt das »Loslassen« in dieser Lage schwer. Schließlich gibt es in der bei Infektionen besonders gefährdeten Altersgruppe 60+ weiterhin zu viele Ungeimpfte – und selbst bei den älteren dreifach Geimpften noch zu viele schwere Verläufe. Deshalb empfiehlt die STIKO eine zweite Auffrischimpfung nach drei Monaten für 70+. Schwere Verläufe gibt es ebenso bei ungeimpften Schwangeren, die auch von ihren noch ungeimpften Kindern angesteckt werden können. Und viele immungeschwächte Personen können selbst nach einer vollständigen Impfung keinen wirksamen Schutz aufbauen. Sollte man mit Blick auf diese Menschen Schutzmaßnahmen wirklich weitestgehend aufgeben?

Meiner Meinung nach kann man zudem eigentlich gesunde Kinder und Jugendliche nicht einfach dem Virus »überlassen«. Es wird zwar unmöglich sein, dem Virus auf lange Sicht ganz aus dem Weg zu gehen; außerdem werden sehr viele Infektionen in der jüngeren Generation sicher mild oder sogar asymptomatisch verlaufen. Aber nicht alle – und so wird das Virus weitergetragen. Je höher die Umlaufgeschwindigkeit, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich neue, vielleicht gefährliche Mutationen bilden. Es hat einen Wert an sich, diesen Kreislauf zu bremsen. Am besten mit einer hohen Durchimpfungsrate – auch bei den Jüngeren.

Gründe gegen die »Infektion für alle«

Noch immer wissen wir zu wenig über Long Covid. Gleichzeitig gibt es regelmäßig neue und beunruhigende Erkenntnisse. So könnte mit der Verbreitung der Omikron-Variante die Zahl der Pseudokrupp-Fälle bei unter Zweijährigen in den USA deutlich angestiegen sein, wie eine Studie nahelegt. Die dafür untersuchte Zahl der Betroffenen war zwar gering – die Daten zu der fachsprachlich stenosierende Laryngitis genannten Krankheit stammen aus einem einzelnen Kinderkrankenhaus –, die kleinen Patienten und Patientinnen waren jedoch deutlich behandlungsbedürftiger als bei dem Krankheitsbild sonst üblich: Zwölf Prozent der Erkrankten mussten stationär behandelt werden; fünf Prozent benötigten gar Intensivpflege.

Heftig diskutiert wurden ja die angeblichen »Langzeitfolgen« von Impfungen (die es nicht gibt), während die sehr realen möglichen Langzeitfolgen von Covid viel weniger im Fokus stehen. Dabei zeigt eine aktuelle Studie in »Nature Medicine« gerade, dass sich bei Patienten und Patientinnen im ersten Jahr nach einer durchgemachten Covidinfektion das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen deutlich erhöht: Unabhängig davon, wie schwer die Coronaerkrankung war – die Gefahr von Schlaganfällen, Herz-Rhythmus-Störungen, entzündlichen Herzerkrankungen wie Herzbeutel- oder -muskelentzündung, Herzinfarkt oder Angina pectoris stieg an. Eine andere Studie hat die Feten von Schwangeren untersucht: Bei positiv auf Corona getesteten Frauen war das Lungenvolumen der Ungeborenen geringer als bei einer Vergleichsgruppe. Was bedeutet das für ihr Leben? Wir wissen es nicht.

Auch wenn die Coronainfektion oft mild verläuft und bei dreifach Geimpften noch öfter: Covid-19 ist eine ernste Krankheit, ganz sicher keine Erkältung. Es stört mich sehr, dass dies unterzugehen droht, sobald das Signal »Es ist vorbei« kommt. Eine im Journal »Lancet« veröffentlichte Arbeit hat gerade den Blick auf die realen weltweiten Todesraten geworfen: Die Forscher haben in ihrer Modellierung versucht, Datenlücken zu schließen, und kommen auf eine Zahl von bislang mehr als 18 Millionen Toten weltweit von 2020 bis 2021. »Die Auswirkungen der Pandemie waren weitaus größer, als es die gemeldeten Todesfälle auf Grund von Covid-19 allein vermuten lassen«, schlussfolgern die Forschenden. Zum Vergleich: Die Zahlen der Todesfälle bei der Spanischen Grippe 1918/19 sind nicht genau bekannt, werden aber zwischen 20 und 40 Millionen weltweit geschätzt. Sind wir davon vielleicht gar nicht so weit weg? Unabhängig davon: Dass hier zu Lande fast 128 000 Menschen seit Beginn der Pandemie gestorben sind – und die Zahl täglich weiter wächst –, erschreckt mich schon genug.

All das sind Einzelaspekte, doch sie beschäftigen mich. Es sind medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse, die in der jetzigen Situation nicht unter den Tisch fallen sollten, wenn wir aus gesellschaftlich-politischen Erwägungen grundlegende Lockerungen erwarten. Ein persönliches Fazit fällt mir schwer. Das Virus scheint zumindest für Junge, Gesunde und Geimpfte keine so relevante Bedrohung mehr zu sein. Niemand hat mehr so richtig Bock auf anstrengende Pandemiebewältigung. Wir wissen heute einerseits viel mehr als zu Beginn der Pandemie. Andererseits wissen wir einiges noch gar nicht oder nicht gut genug, etwa über die Bedeutung von Long Covid. Ich meine, dass es zu früh ist, sich ganz zu entspannen. Ich meine, es ist immer noch Zeit, sich impfen zu lassen, für alle, die es bisher nicht geschafft haben. Es gibt weiter Anlass dranzubleiben! Vielleicht hilft dabei ja ein brandneuer Impf-O-Mat? Doch eine Strategie, die sich jetzt damit abfindet, dass ohnehin alle irgendwann ihre Covidinfektion durchmachen werden? Das ist für mich keine Strategie – sondern schlichtes Aufgeben.

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