Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über die Magie okkulter Zauberbücher

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Wer durch die engen Gassen von Toledo streift, dieser alten Stadt in Kastilien, hört sie vielleicht noch – die Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Sie erzählen von einem Ort, der seit Jahrhunderten altes Wissen bewahrt. Und eine ungreifbare Macht. Toledo war im Mittelalter nämlich nicht nur ein Zentrum des intellektuellen Austauschs, ein Ort, an dem Christentum, Judentum und Islam einander beeinflussten. Es war auch ein Ort der Schatten. In verborgenen Gewölben, zwischen Pergamenten und Papyri, wurde hier eine Literatur gepflegt, die mehr war als bloße Texte: Es waren Bücher, die magisches Wissen versprachen und später als Grimoires bezeichnet wurden.
Diese Zauberbücher, mal handgeschrieben, mal gedruckt, prägten als Subkultur mehrere Jahrhunderte der europäischen Geschichte, vor allem in der Zeit vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert waren sie beliebt. Sie versprachen nichts Geringeres als den Zugriff auf die unsichtbaren Kräfte der Welt, sei es für Heilung, Einfluss, Liebe oder Macht.
Ihre Wurzeln reichen tief. Schon frühe Kulturen hatten das Schreiben mit dem Okkulten verbunden. Orakelknochen in China, Ritualtexte aus Mesopotamien oder gezeichnete Zaubersymbole auf Sumatra – Schrift galt nie als reine Technik allein. Vielmehr könne sie auch eine Wirkung entfalten, so die Vorstellung. In der hebräischen Bibel etwa wird ein Fluch geschildert, der erst aufgeschrieben, dann abgewaschen und das Tintenwasser schließlich getrunken wurde. Worte, so glaubte man, wirkten selbst noch im Verschwinden.
Zauberworte, um Dämonen zu binden
Die Vorstellung, dass ein Buch nicht nur Informationen trägt, sondern Teil der Magie sein kann, bereitete den Boden für die Grimoires (französisch ausgesprochen, in etwa wie »Grimwar«). Ihr Name ist vom französischen Wort für Grammatik, »grammaire«, abgeleitet. Eines der frühesten Beispiele für ein Grimoire war das »Testament Salomos«. Der Text aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten beschreibt, wie der biblische König mit dem Ring des Erzengel Michael Dämonen bindet. Jeden der Geister zwingt er, sich zu offenbaren und zu erklären, wie man ihn bannen könne. Oft reiche dafür ein Wort, geschrieben auf Pergament.
Solche Kombinationen aus Namen, Symbolen und Ritualen bildeten den Bauplan der späteren Grimoires. Doch nicht nur der Inhalt zählte, sondern auch das Material ließ sich angeblich magisch aufladen. Tinte vermischt mit Myrrhe oder Blut und Pergament von einem ungeborenen Kalb galten als besonders wirksam. Nichts sollte dem Zufall überlassen sein, alles war Teil des Zaubers.
Toledo, ein Schmelztiegel des okkulten Wissens
Im Mittelalter formte sich daraus eine neue Textgattung: das Grimoire als Handbuch der Magie. Ein Beispiel war das »Almandal«, ein Engelsritual, das im 15. Jahrhundert kursierte. Dieses besagte, man solle auf eine Wachsplatte mit einem Silberstift göttliche Namen schreiben – begleitet von Gebeten, Gesten und der Farbe Rot. Die Rituale sind detailliert beschrieben und waren präzise zu befolgen, damit nichts schiefgehen würde. Wer Engel rief, wollte sichergehen, dass stattdessen nicht ein Dämon auftauchte.
Das eingangs erwähnte Toledo spielte in dieser Entwicklung der Grimoires eine Schlüsselrolle. Nach der Reconquista des islamischen Spaniens durch Alfonso VI. im Jahr 1085 wurde die Stadt zum Schmelztiegel des Wissens. Muslimische, jüdische und christliche Gelehrte arbeiteten hier nebeneinander und bald auch miteinander. In groß angelegten Übersetzungsprojekten wanderte das Wissen der arabischen Welt ins Lateinische in den Bereichen der Philosophie, der Medizin – und der Magie.
Da ist es nicht verwunderlich, dass die in Toledo übersetzten Grimoires ziemlich polyglott waren. Latein taucht darin als Sprache der Kirche auf, auf Griechisch sind die antiken Texte, Hebräisch wurde für göttliche Namen genutzt und zunehmend waren Abschnitte auf Arabisch formuliert. Für die vielen Sprachen gab es keine praktische Notwendigkeit, vielmehr sollten sie den Werken eine besondere Aura verleihen. Denn wer ein Buch nicht verstehen kann, neigt dazu, es für mächtig zu halten.
Die Grimoires wurden zur Massenware
Mit dem Buchdruck veränderte sich die Lage enorm. Was früher nur Eingeweihten vorbehalten war, wurde nun massenhaft gedruckt. Die Grimoires verließen die Klöster und wanderten in die Dorfbibliotheken. Werke wie das »Testament Salomos« oder das »Grimoire des Papstes Honorius« erreichten neue Leserschichten – Bäuerinnen, Kräuterfrauen und wandernde Alchimisten. Die Kirche reagierte nervös. Viele dieser Bücher landeten bald auf den Indizes verbotener Werke. Dennoch ließ sich ihre Verbreitung kaum eindämmen.
In Klöstern wurden die Grimoires zudem weiter kopiert, inzwischen aber auch an Universitäten gelesen. Auf diese Weise entstand ein, wie es der Historiker Owen Davies von der University of Hertfordshire in seinem Buch »Grimoires – A History of Magic Books« bezeichnet, »klerikaler Untergrund« der Magie, vor allem vertreten durch den niederen Klerus. Wie zahlreiche Kirchenprozesse der Zeit belegen, nutzten die Geistlichen die Grimoires, sowohl um den Teufel zu bekämpfen als auch um ihn zu rufen.
Paradoxerweise waren die Grimoires ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung besonders begehrt. Während Kant die Vernunft predigte, verkauften Kolporteure, die wandernden Buchhändler in Frankreich, kleine, blaue Hefte mit Zaubersprüchen: die »Bibliothèque bleue«. Währenddessen begann in Deutschland ein neuer Protagonist des magischen Volksglaubens seine Karriere: Dr. Faustus, ein spärlich belegter Wandermagier, dem nachgesagt wurde, mit dem Teufel zu paktieren. Seine Schriften – »Fausts Höllenzwang« und »Fausts Geister-Commando« – kursierten als populäre Grimoire-Ausgaben.
Dabei sollten diese Texte nicht nur vom Alltagstrott ablenken. Grimoires wurden für handfeste Anliegen des täglichen Lebens zu Rate gezogen. Es ging also einerseits darum, Dämonen zu beschwören, und andererseits darum, sich Glück zu sichern, Krankheiten zu bannen oder Liebe zu gewinnen.
Als die Grimoires über den Atlantik reisten
Bald fanden die Grimoires auch ihren Weg in entferntere Gefilde, nach Westafrika, in die Karibik, nach Nordamerika. Deutsche Auswanderer brachten ihre Zauberbücher nach Pennsylvania mit, in Jamaika verschmolzen französische und afrikanische Praktiken mit den populären Grimoires der Zeit. In Nigeria beeinflussten Texte von William Lauron DeLaurence (1868–1936) – einem amerikanischen Verleger und Okkultunternehmer – religiöse Bewegungen. Seine Bücher tauchten in Kamerun, auf Trinidad und in spirituellen Kirchen auf.
DeLaurence selbst verkaufte nicht nur Bücher, sondern ein ganzes magisches System. Mit ihm begann das Zeitalter der »Pulp Magic«. Damit sind billige, massenproduzierte Ratgeber gemeint voller Formeln, Geisterbeschwörungen und Rituale.
Mit der Entstehung einer neuen literarischen Gattung verschwammen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion schließlich komplett: Die »phantastische Literatur« bediente sich der Grimoires, allerdings mehr als narrativem Vehikel denn als tatsächlichem Zauberbuch. H. P. Lovecraft führte 1922 das »Necronomicon« ein, ein fiktives Grimoire, das es gar nicht gab. Niemand konnte also wissen, was drinstand, aber genau das machte seinen Reiz aus: Es wurde später tatsächlich aufgelegt. Auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts verlor das Grimoire nichts von seiner Faszination. In Romanen wie »Der Club Dumas« von Arturo Pérez-Reverte, in dessen Verfilmung »Die Neun Pforten« und in etlichen anderen Kinofilmen und Fernsehserien lebt das Motiv fort. Immer wieder geht es um das verbotene Buch, das Zugang zu dunkler Macht verspricht.
Das Grimoire ist also weit mehr als ein Zauberbuch. Es ist ein Spiegel unserer Sehnsüchte nach Einfluss, nach Ordnung im Chaos, nach Kontrolle über das scheinbar Unsichtbare. Und es ist ausnehmend wandlungsfähig: Aus den Manuskripten der Mönche wurde eine okkulte Massenware, aus einem magischen Werkzeug eine literarische Ikone.
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