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Olé!: Gute Laune en masse

Steve Ayan (links)
Wo man hinsieht, blickt man dieser Tage in glückselige Gesichter. Und das schon am frühen Morgen: Der Bäcker überreicht mir stolz ein "Weltmeisterbrötchen". Die Bauarbeiter ums Eck lobpreisen Klosolskis Knipserqualitäten. Selbst der Obdachlose vor der Tür des Selbsthilfevereins, an dem ich jeden Tag vorbeikomme, grüßt mich neuerdings mit "Olé!" und wedelt frohgemut ein schwarz-rot-goldnes Fähnchen. Die zieren inzwischen nicht nur Autos und Balkone, sondern auch Kinderwagen, Damenhandtaschen und selbst Kirchenportale.

Kein Zweifel: Ein unwiderstehliches Hochgefühl hat die Masse der Deutschen ergriffen. Doch hoppla, "Masse" – das Wort allein schickte Psychologen und Soziologen jahrzehntelang kalte Schauer über den Rücken. Dunkel dräuend lauere sie nur darauf, vom Individuum Besitz zu ergreifen, es zu unkritischem, verantwortungslosen, gewalttätigen Treiben zu verführen und zum Spielball des Kollektivrauschs zu degradieren. Spielball? Kollektivrausch?! "Olé, olé, Deutschland, olé!" Die grassierende Fußballeuphorie zeigt, dass es auch anders geht: WM-Arenen und "Public Viewing"-Plätze geraten zum Experimentierfeld einer positiven Psychologie der Masse. Deren auffälligste Indizien: Dauergrinsen im Gesicht, Zucken im Fuß und ungeahnte Toleranz gegenüber Fragen wie: "Wann ist noch mal Abseits?"

Nur eine Spezies scheint gegen all dies gefeit: Ist Ihnen schon einmal die Phalanx der grell orange beschürzten Ordner aufgefallen, die in jedem Stadion die Zuschauertribünen säumen – mit dem Rücken zum Spielfeld! Wie viel Abgebrühtheit, wie viel übermenschlicher Gleichmut gehören wohl dazu, um nicht einen einzigen Moment lang den Kopf zu wenden, den Blick starr auf das verzückte Publikum gerichtet? Der Ordner als sozialpsychologisches Studienobjekt – wer weiß, welche Abgründe der Seele sich dabei auftäten! Ich möchte es lieber gar nicht wissen.

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