Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte des größten zivilen Nuklearunfalls
Das Gebäude stand schon seit zwei Jahren leer, der Wachmann war auch seit einiger Zeit nicht mehr gesichtet worden und die Gelegenheit also günstig: Als die beiden Müllsammler Wagner Mota Pereira und Roberto Alves das stillgelegte medizinische Institut betraten, waren sie auf der Suche nach Altmetall. Hinter einer gepanzerten Tür wurden sie fündig. Sie ahnten nicht, dass sie mit diesem Einbruch, den sie am 13. September 1987 begingen, den bislang größten zivilen Nuklearunfall der Geschichte auslösen würden.
In einem Raum des verlassenen Instituts stießen sie auf einen interessanten Apparat. Ein Strahlentherapiegerät, Modell Cesapan F-3000, das beim Umzug des Instituto Goiâno De Radioterapia zurückgelassen wurde. Unter seiner Haube: hochradioaktives Material. Es war dort nicht vergessen worden. Ein Rechtsstreit mit den neuen Besitzern des Gebäudes verhinderte, dass die Ausstattung entfernt wurde.
Die beiden Müllsammler witterten gutes Geld und transportierten Teile des Geräts mit einer Schubkarre nach draußen. Dann begannen sie, es in seine Einzelteile zu zerlegen. Bei der Kapsel, die die eigentliche Strahlenquelle enthielt, stießen sie an ihre Grenzen. In dem Zylinder steckte das Cäsiumisotop 137, eingeschlossen in einen doppelten Abschirmbehälter aus Blei und Stahl. Tagelang bearbeiteten sie den Behälter, schafften es am Ende aber nur, ihn zu beschädigen, und nicht, wie geplant, auseinanderzubauen. Mit einem Schraubenzieher gelang es ihnen, ein kleines Loch hineinzubohren. Inzwischen stellten sich bei beiden die ersten Strahlenschäden ein, doch einen Zusammenhang zu ihrem neuesten Fund stellten weder sie her noch die Ärzte, die sie um Rat fragten.
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Wenige Gramm blau schimmerndes Pulver …
Sie brachten dann die Einzelteile des Strahlentherapiegeräts zu einem Schrotthändler. Devair Alves Ferreira kaufte ihnen das vermeintlich harmlose Altmetall ab, und so nahm das Unglück seinen Lauf. Der Schrotthändler schaffte es schließlich doch, die Kapsel aufzubrechen. Sie enthielt 93 Gramm Cäsiumchlorid, ein Pulver, das schwach blau leuchtet. Und dieses Leuchten faszinierte Ferreira so sehr, dass er das Pulver mit nach Hause nahm und in den folgenden Tagen und Wochen seinen Freunden und der Familie etwas davon abgab.
93 Gramm klingt nach nicht viel, und das eigentlich radioaktive Cäsium-137 machte sogar nur 19 Gramm aus. Doch das genügte, um eine Wirkung zu entfalten, die weit über den Schrottplatz hinausging. Cäsium-137 entsteht ausschließlich bei der Kernspaltung und zerfällt dann wieder mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren. Es steckte auch hinter einem Großteil der Verstrahlung, die bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 auftrat. Die Strahlengefahr auf westdeutschem Gebiet wurde von gerade einmal 230 Gramm des radioaktiven Elements ausgelöst. Auch durch Fukushima 2011 und durch Kernwaffentests ist es in die Umwelt gelangt.
… mit dramatischen Konsequenzen
In Goiânia traten nur wenige Tage später bei vielen, die mit Ferreira Kontakt hatten, die ersten Krankheitssymptome auf: Übelkeit, Erbrechen, Juckreiz, Haarausfall oder Durchfall. Nach einigen Tagen wurde die Ehefrau von Ferreira, Maria, skeptisch ob der vielen Erkrankungen in ihrem Umfeld. Sie holte den Bestrahlungskopf wieder zurück, den ihr Mann inzwischen an einen anderen Schrotthändler weiterverkauft hatte. Sie packte ihn in einen Sack und fuhr damit im Bus in ein Krankenhaus. Dort schöpfte dann ein Arzt den Verdacht, dass es sich bei Ferreira um ein Strahlenopfer handeln könnte.
Der Verdacht wurde kurz darauf durch eine Messung bestätigt und so begann, fast zwei Wochen nachdem das Strahlentherapiegerät gestohlen wurde, ein Notfallprogramm: Die ganze Umgebung wurde evakuiert, mehr als 100 000 Personen wurden untersucht. 6500 von ihnen waren wohl der radioaktiven Strahlung ausgesetzt gewesen, und 249 so heftig, dass sie in Quarantäne mussten.
Unmittelbar sind vier Menschen durch den Nuklearunfall gestorben, darunter Maria Ferreira, die dafür gesorgt hat, dass die Sache überhaupt ans Licht kam. Sie war einer Strahlendosis von 5,7 Gray ausgesetzt. Die physikalische Einheit Gray beschreibt die Energie, die einen bestrahlten Gegenstand trifft. Ein Wert ab 4 Gray gilt als tödlich.
85 Häuser rund um den Schrottplatz waren kontaminiert. Sieben Gebäude wurden komplett abgerissen. Insgesamt mussten 3500 Kubikmeter radioaktiver Abfall beseitigt werden, der heute in einer eigens errichteten Parkanlage (»Parque Estadual Telma Ortegal«) samt Informationszentrum untergebracht ist.
Zur Reinigung der Häuser und Behandlung von Strahlenpatienten wurde auf eine Farbe zurückgegriffen: Preußisch Blau, auch Berliner Blau genannt. Denn eine chemische Eigenschaft der Farbe ist es, Cäsium zu binden. So kam es in Goiânia zum umfangreichsten Einsatz von Berliner Blau in der Geschichte der Nuklearunfälle.
Eine Katastrophe, die bis heute nachwirkt
Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), die ihren Sitz in Wien hat, gab in ihrem Abschlussbericht an, dass die Strahlenquelle 50,9 Terabecquerel enthielt, als sie entnommen wurde, und dass etwa 44 Terabecquerel durch die Reinigungsarbeiten wieder zurückgewonnen werden konnten. Damit verblieben sieben Terabecquerel in der Umwelt. Teile der Stadt sind bis heute radioaktiv belastet.
Die internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (kurz INES) kennt sieben Stufen: von »Störung« bis hin zu »katastrophaler Unfall«. Das Unglück von Goiânia wird auf Stufe 5 (»ernster Unfall«) eingeordnet. Damit steht es auf einer Stufe mit dem Unglück des Reaktors bei Harrisburg, besser bekannt als Three Mile Island, im Jahr 1979.
Eine Wiederholung eines solchen Unglücks ist zwar nicht ausgeschlossen, aber moderne Strahlentherapiegeräte enthalten meist kein radioaktives Material mehr, sondern erzeugen die Strahlung ähnlich wie eine Röntgenröhre durch das Beschleunigen und Abbremsen von Elektronen. Wenn die Geräte abgeschaltet sind, geht von ihnen auch keine Strahlungsgefahr mehr aus.
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