Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der berühmtesten Hose der Welt

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Am Abend des 24. Dezembers irgendeines Jahres in den 1970ern wird der junge Edgar W., durch einen Stromschlag schwer verletzt, in einer Berliner Gartenlaube gefunden. Kurz darauf stirbt er. Eine Zeitungsmeldung spricht von einem tragischen Unfall. Und tragisch ist die Geschichte in der Tat. Zum Glück ist Edgar W. keine reale Person. Es ist Edgar Wibeau, der jugendliche Protagonist aus Ulrich Plenzdorfs 1972 erschienenem Roman »Die neuen Leiden des jungen W.«.
Wibeau ist ein junger Mann mit Eigensinn, Wut – und einer Sehnsucht: echte Jeans. Keine synthetischen Importe aus den staatlichen Jugendmodegeschäften der DDR, sondern originale Denim-Hosen aus dem Westen. Ein Stück Stoff mit Geschichte, Haltung und Symbolkraft.
Für ihn verkörpern Jeans eine Lebenseinstellung, sie stehen für den Protest gegen das staatlich Vorgegebene. Denn im Arbeiter- und Bauernstaat stehen die legendären Arbeiterhosen für das Unerreichbare: Freiheit – nicht nur im Roman, sondern auch in der kollektiven Wahrnehmung der ostdeutschen Jugend.
Die Sehnsucht, die die »Nietenhosen« hier und anderswo auslösen, fußt auf einer langen Geschichte, die im engeren Sinne im 19. Jahrhundert beginnt. Tatsächlich reicht sie noch viel weiter zurück. Bereits im 16. Jahrhundert trugen Seeleute aus Genua Glockenhosen aus einem kräftigen Baumwollstoff, der später in Anlehnung an den Namen des Herkunftsorts als »Jean« bezeichnet wurde. In der südfranzösischen Stadt Nîmes entstand zur selben Zeit ein Gewebe namens Serge de Nîmes – daraus entwickelte sich der Begriff »Denim«.
Jean und Denim sind schon sehr früh amerikanische Produkte
Beide Stoffarten unterschieden sich nicht nur im Namen, sondern auch in der Webart: Jean wurde in Leinwandbindung gefertigt, glatt und beidseitig gleich, während Denim in Köperbindung gewebt wurde, was ihm eine diagonale Struktur und größere Widerstandsfähigkeit verlieh. Beide fanden breite Verwendung im Bereich belastbarer Arbeitskleidung – insbesondere in der aufstrebenden Textilproduktion der amerikanischen Kolonien, wo Jean- und Denimstoffe ab dem 17. Jahrhundert verarbeitet wurden.
Als Farbstoff dominierte das Blau. Zunächst wurde es aus dem Färberwaid gewonnen, ein aufwändiger Prozess mit wenig farbintensivem Ergebnis. Dann revolutionierte Indigo mit tropischer Herkunft den Markt. Der Anbau in Plantagen der Südstaaten machte Indigo zu einem globalen Exportschlager – bis der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg diesen Handel unterbrach.
Die Geburtsstunde der heute so bekannten und beliebten Blue Jeans allerdings ist einem Mann aus Bayern zu verdanken. Im Jahr 1847 wanderte Löb Strauss mit seiner Mutter und seinen Schwestern von Buttenheim in Oberfranken nach New York aus. Der Vater war an Tuberkulose gestorben, wirtschaftliche Not und das bayerische Judenedikt hatten der Familie jede Perspektive genommen. In Manhattan trat Löb, der sich fortan Levi nannte, in das Geschäft seiner bereits einige Jahre zuvor ausgewanderten Brüder ein. Sie verkauften in ihrem Handelshaus »dry goods«, also Textilien, Kurzwaren oder eben auch Kleidung.
Die Modewelt erlebt ihr blaues Wunder
1853 zog Strauss weiter nach San Francisco. Die Stadt florierte im Zuge des Goldrauschs, und auch die Goldgräber hatten Bedarf an »dry goods«. Einer verbreiteten Legende zufolge soll Levi Strauss selbst Hosen aus Zeltstoff genäht haben, tatsächlich betätigte er sich jedoch als Großhändler und vertrieb robuste Arbeiterhosen, die in den Bekleidungsgeschäften Kaliforniens landeten. Erst 1873 begann die eigentliche Jeansgeschichte: Jacob Davis, ein Schneider, entwickelte eine Arbeitshose mit Kupfernieten, die der Verstärkung dienten, speziell an den Taschen. Weil er die Patentkosten scheute, wandte er sich an Strauss. Dieser übernahm die Hälfte der Kosten, das Patent wurde bewilligt, und gemeinsam starteten sie die Produktion der ersten genormten Arbeitshose mit Nieten.
Von Anfang an verwendete die Strauss & Co. nur besten Denim – eingekauft bei der Amoskeag Manufacturing Company in New Hampshire, dem Marktführer auf diesem Gebiet. Die genietete Hose erwies sich als nahezu unverwüstlich. Schon bald nutzte Strauss auf Lederetiketten das Bild zweier Pferde, die vergeblich eine Hose entzweizuzerren versuchen, als Markenzeichen – ein Sinnbild für die Stärke des Produkts.
Um 1890 erhielt das beliebteste Modell im internen Katalog die Nummer 501. Es war der Beginn einer Markenlegende. Die 501 verfügte über fünf Taschen, eine Knopfleiste, das charakteristische Arcuate-Stichmuster auf den Gesäßtaschen und das erwähnte Lederetikett. Diese Elemente blieben über Jahrzehnte nahezu unverändert – eine Seltenheit in der Modeindustrie. Doch der Erfolg rief Nachahmer auf den Plan: In Kansas gründete 1911 die H.D. Lee Company ihre eigene Jeansproduktion, und 1947 entstand mit Wrangler eine weitere Marke, die besonders das Image des Cowboys kultivierte.
Zunächst war die Jeans reine Männerkleidung. Getragen wurde sie in Minen, bei der Eisenbahn, auf Ranches. Im Zweiten Weltkrieg änderte sich das Bild. Frauen arbeiteten in Fabriken und trugen Jeansoveralls, wie das ikonische Bild von »Rosie the Riveter« eindrucksvoll zeigt. Nach Kriegsende wurden diese Rollenbilder wieder zurückgedrängt – doch die Jeans blieb präsent.
Ikonen in ikonischer Kleidung
Der große Wandel erfolgte in den 1950er Jahren: Nun trugen mit einem Mal Kinohelden wie James Dean und Marlon Brando die Jeans – und verwandelten damit das funktionale Kleidungsstück in ein rebellisches Symbol. Die Hose, einst Werkzeug des Arbeiters, wurde nun zur Uniform der Jugend. Schulen verboten sie, Eltern misstrauten ihr, was ihre Attraktivität nur steigerte. Levi's, Lee und Wrangler reagierten: neue Schnitte, Reißverschlüsse, Damenmodelle. Die Jeans wurde zum Ausdruck der Popkultur, zum Statement einer Generation.
In der DDR war die Jeans zunächst kaum verfügbar. Über amerikanische Soldaten gelangten erste Exemplare auch in die sowjetische Besatzungszone, später entstand ein florierender Schwarzmarkt. Levi's galten als ultimatives Statussymbol – nicht wegen Qualität oder Passform, sondern allein auf Grund ihrer Herkunft. Sie verkörperten eine Identität, die sich der staatlichen Kontrolle entzog. DDR-Jugendliche nutzten sie zur Abgrenzung von der Elterngeneration und zum stillen Protest gegen das sozialistische Kollektiv.
Die SED versuchte gegenzusteuern: Jugendmodegeschäfte wie JUMO und staatliche Jeansmarken – Wisent, Shanty, Boxer – sollten Alternativen schaffen. Ein »Haufen Plunder, der bloß so tut wie echte Jeans«, sagt Edgar Wibeau dazu. Die Symbolkraft der westlichen Originale ließ sich nicht imitieren.
In den Jahrzehnten nach den 1970er Jahren wurde die Jeans endgültig zum globalen Kleidungsstück. Wie der Autor James Sullivan in seinem Werk »Jeans: A Cultural History of an American Icon« nachzeichnet, passte sie sich jeder Jugendkultur an: Punk, Hippie, Grunge, Hip-Hop. Sie wurde gebleicht, zerfetzt, bestickt, gebatikt. Gleichzeitig verlor sie ihren subversiven Charakter – je massenkompatibler sie wurde, desto neutraler wirkte sie. Neue Hersteller traten auf den Plan, zum Beispiel in Italien, aber auch in Japan, dessen Jeansmanufakturen heute zu den besten der Welt zählen.
Inzwischen ist die Jeans weltweit omnipräsent. Laut anthropologischen Studien tragen Menschen in westlichen Ländern durchschnittlich 3,5 Tage pro Woche Jeans. Sie wurde zur »Default-Kleidung« – modisch vielseitig, aber ideologisch entkernt. Und doch blieb sie, trotz aller Modifikationen, in ihrem Kern bestehen: als robuste, formtreue, blaue Hose mit Nieten.
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