Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der wohl seltsamsten Stadt der Welt

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Mitten in der modernen Metropole Hongkong existierte bis in die 1990er Jahre ein Ort, der sich jeder bekannten urbanen Ordnung entzog – ein unregulierter, selbstorganisierter Mikrokosmos aus Beton, Blech und Menschenleben: die Kowloon Walled City. Ein Ort zwischen den Fronten, zwischen den Systemen und zwischen den Zeiten.
Die Geschichte dieses weltweit einzigartigen urbanen Phänomens nahm ihren Anfang im 17. Jahrhundert. Damals begann China auf der Kowloon-Halbinsel erste Signalstationen einzurichten. Anfang des 19. Jahrhunderts setzte das Kaiserreich dann ein kleines Fort in die Welt. Es war strategisch günstig gelegen: Vor der Küste Kowloons lag, nur durch einen schmalen Meeresarm getrennt, die Insel Hong Kong Island – die Keimzelle des späteren britischen Hongkongs. Als 1839 der Erste Opiumkrieg ausbrach, wuchs die geopolitische Bedeutung des Areals, erst recht, als Großbritannien im Jahr 1842 das südlich gelegene Hong Kong Island zugesprochen bekam. Die Qing-Regierung ließ das Fort befestigen – mit dicken Mauern, Wachtürmen, Schießscharten und einer eigenen Garnison. Eine Schule sollte moralische Überlegenheit gegenüber den europäischen Kolonialisten vor den Toren demonstrieren.
Ein Ort zwischen zwei Reichen
Schon wenige Jahre später wurde die Festung auf die Probe gestellt, allerdings nicht durch britische Truppen. Im Jahr 1854 – im Kontext des Taiping-Aufstands – eroberten antiimperiale chinesische Kräfte die Stadt und brachten sie für kurze Zeit unter ihre Kontrolle. Die Qing-Verwaltung musste sich nach Hong Kong Island zurückziehen, und nur ein Eingreifen britischer Schiffe erzwang den Abzug der Rebellen. Nach der Niederschlagung des Aufstands kehrte die kaiserliche Präsenz in die Festungsstadt zurück, doch die kleine zivile Bewohnerschaft wuchs kaum an.
Zur rechtlichen Grauzone wurde Kowloon durch einen politischen Umbruch gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1898 verpachtete nämlich das chinesische Kaiserreich die sogenannten New Territories für 99 Jahre an Großbritannien. Das waren weitläufige Areale, die unter anderem auf dem Festland lagen und damit auch auf der Halbinsel Kowloon.
Sie alle wurden unter britische Herrschaft gestellt. Mit einer Ausnahme: Die Festung Kowloon Walled City sollte chinesische Gerichtsbarkeit behalten, solange keine militärischen Einwände dagegen bestünden. Dieser Vorbehalt war so vage formuliert, dass es zu einem jahrzehntelangen Verwaltungsvakuum kam. Die Briten duldeten die Präsenz, engagierten sich aber nicht weiter. Auch die kaiserliche Verwaltung zog sich zurück, das Gebiet verkam zum rechtsfreien Raum – ein Zustand, den nach 1945 insbesondere Flüchtlinge aus Festlandchina nutzten.
Vom Ruinenfeld zum bewohnten Labyrinth
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der japanischen Besatzung (während der die Festungsmauern abgetragen wurden, um Baumaterial für den Flughafen Kai Tak zu gewinnen) fanden tausende Vertriebene in der unkontrollierten Zone Zuflucht. Die britische Kolonialverwaltung versuchte 1948 eine Räumung, was zu Protesten bis nach Schanghai führte. Die politische Lage zwang beide Regierungen zum Rückzug – und damit begann die eigentliche Transformation der Walled City.
In den 1950er und 1960er Jahren explodierte die Bevölkerungszahl förmlich. Illegale Bauten schossen in die Höhe, über 300 engstehende Hochhäuser wucherten stockwerkweise übereinander. Ohne Genehmigungen, mit wenig Rücksicht auf Statik und ohne Kanalisation entstand eine vertikale Stadt, in der zeitweise mehr als 30 000 Menschen auf 2,6 Hektar lebten – dichter besiedelt als jeder andere Ort der Welt. Die Architektur war chaotisch, aber funktional: Gassen wurden zu Tunneln, Balkone zu Käfigen, Dächer zu Müllhalden. Elektrizität kam über angezapfte Leitungen, Wasser aus improvisierten Systemen, Abwässer flossen offen durch Rinnen. Eine Stadt, entstanden aus der Notwendigkeit, ohne Planung, aber mit erstaunlicher Funktionalität.
Eine Parallelgesellschaft im Inneren
Trotz katastrophaler hygienischer und baulicher Zustände entstand in diesem städtischen Labyrinth eine eigene soziale Ordnung. Die Walled City entwickelte sich zu einem Wirtschaftsraum jenseits staatlicher Kontrolle: Wie Ian Lambot und Greg Girard in ihrem Buch über die »City of Darkness« aufzeigten, produzierten Werkstätten Spielzeug, Süßigkeiten und Fischbällchen. Letztere deckten sogar zeitweise rund 80 Prozent des Bedarfs von Hongkong. Zahnärzte und Ärzte mit chinesischen Abschlüssen praktizierten ohne Lizenz, aber mit großem Zulauf. Behörden blieben zumeist fern, was – lange Zeit zu Recht – dem Slum den Ruf einer kriminellen Hochburg einbrachte. Erst im Lauf der 1970er Jahre wurde die vor allem von den Triaden dominierte Kriminalität durch eine umfassende Polizeioffensive deutlich zurückgedrängt.
Was von außen als chaotischer Slum erschien, galt vielen Bewohnern jedoch als funktionierende Gemeinschaft. Man kannte sich, half einander, entwickelte solidarische Strukturen. Der Begriff der »eisernen Reisschale« – der sicheren Existenzgrundlage – wurde zum Sinnbild für das Leben hinter den Mauern. Für viele war die Walled City schlicht ein Zuhause, das ihnen Sicherheit bot, während das restliche System versagte.
Das Ende einer Unmöglichkeit
Mit der Sino-British Joint Declaration von 1984, die die Rückgabe Hongkongs an China regelte, geriet die Walled City in den Fokus beider Regierungen. Die bisherige politische Duldung endete. 1986 begannen streng geheime Vorbereitungen zur Räumung. Eine kleine Gruppe Beamter führte zunächst eine verdeckte Bestandsaufnahme durch, dokumentierte Bewohnerzahlen, Fluchtwege und hygienische Zustände.
Am 14. Januar 1987 verkündeten London und Peking simultan die Räumung. Innerhalb einer Stunde wurden alle Zugänge abgeriegelt. In den folgenden 24 Stunden wurde die erste vollständige Volkszählung durchgeführt: 33 000 Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in der Stadt. Die Umsiedlung verlief weitgehend friedlich, auch dank Entschädigungen und Wohnungsangeboten. Einige wenige weigerten sich bis zuletzt – sie wurden zwischen 1991 und 1992 unter Polizeischutz zwangsweise entfernt.
1993 begann die geplante Zerstörung. Eine eigens eingeflogene Abrisskugel aus den USA wurde eingesetzt, um die dichte Betonstruktur zu durchbrechen. Schon ein Jahr später war alles verschwunden – bis auf den Yamen, den alten Verwaltungssitz, der restauriert und in eine neugeschaffene Parkanlage integriert wurde. Am 22. Dezember 1996 eröffnete der Kowloon Walled City Park. Es ist ein klassischer Garten im Stil der frühen Qing-Dynastie, mit Pavillons, Teichen und Gedenksteinen. Die radikale Transformation vom unkontrollierten Siedlungsgebiet zum sorgsam gestalteten Erinnerungsort konnte als abgeschlossen betrachtet werden.
Symbol zwischen Chaos und Gemeinschaft
Die Walled City allerdings lebt weiter, in der Forschung, aber vor allem in der Popkultur. Für die einen war sie ein Schandfleck, ein Anachronismus, ein Mahnmal kolonialer Nachlässigkeit. Für andere ein Ort des Widerstands, ein Raum für Eigeninitiative, ein Symbol menschlicher Anpassungsfähigkeit. Ihre Struktur wird in der Stadtplanung als »fraktale Geografie« beschrieben – chaotisch in der Form, funktional in der Nutzung, rhythmisch in der Wiederholung.
Gerade deshalb wurde die Walled City zur Projektionsfläche futuristischer Urbanität. Ridley Scotts »Blade Runner«, William Gibsons »Neuromancer«, Mamoru Oshiis »Ghost in the Shell«: Sie alle zitieren direkt oder indirekt die Ästhetik und Atmosphäre dieses realen Ortes. In Filmen, Romanen, Computerspielen – sogar in einem Freizeitpark in Japan – lebt das Bild der Walled City also fort. Ihr Nebeneinander von Ordnung und Improvisation, Enge und Gemeinschaft, Elend und Widerstandskraft hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Damit bleibt die Kowloon Walled City ein Ort, der eigentlich nicht hätte existieren dürfen und gerade deshalb so viel über das Zusammenspiel von Macht, Selbstorganisation und Resilienz erzählt.
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