Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Chemikers, der Lebensmittelpanscher entlarvte
Speis und Trank sind ein Thema, das die Menschen naturgemäß seit Anbeginn der Geschichte beschäftigt. Beinahe genauso alt ist auch die Angst davor, Nahrungsmittel angedreht zu bekommen, die verdorben sind oder verfälscht wurden. Die Möglichkeiten, diese Gefahr zu minimieren, sind mannigfaltig. Lange Zeit reicht dafür der einfache organoleptische Zugang – also die Sinnesorgane: Vergammeltes Fleisch riecht, gepanschter Wein schmeckt anders, und viele Verunreinigungen können getastet werden.
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Doch im Lauf des 16. und 17. Jahrhunderts verändert sich die Welt drastisch. Durch die Kolonisation wird sie ungleich größer, neue Waren wie Kaffee, Tee oder Schokolade werden auf den Märkten feilgeboten. Und Fortschritte in der Wissenschaft helfen findigen Geschäftsleuten dabei, ihre Waren auf Arten und Weisen zu verändern, die allein mit den Sinnesorganen kaum noch wahrzunehmen sind. Es ist die Stunde der Schwindler und Panscher, die Lebensmittel so verfälschen, dass sie ohne Nährwert sind oder sogar gesundheitsschädlich, wie die Foodjournalistin Bee Wilson in ihrem Buch »Swindled« anschaulich darlegt. Sie schildert zahlreiche Episoden von Lebensmittelverfälschungen – darunter auch die folgende.
Der Tod lauert im Topf
Wir schreiben das 18. und 19. Jahrhundert, wir befinden uns in London, einem Zentrum der Industrialisierung, die einen ungewollten Anlass für Lebensmittelverfälschungen liefert. Denn vor allem in den Städten steigt der Bedarf an Nahrung, zugleich geht die agrarwirtschaftliche Produktion zurück, weil die Menschen vom Land in die Stadt strömen, in den Fabriken arbeiten und so günstig wie möglich ernährt werden wollen. Für Lebensmittelpanscher ein nahezu perfektes Setting. Das Fazit: Die Konsumenten sind die Leidtragenden, während die Verkäufer und Produzenten die Profite einstreichen.
Doch jene haben die Rechnung ohne Friedrich Accum gemacht. Geboren im Jahr 1769 in Hannover, lebt der ausgebildete Apotheker seit 1793 in London und macht sich dort schnell einen Namen. Neben seiner täglichen Arbeit als Apotheker widmet er einen Großteil seiner Zeit der Wissenschaft. Er besucht Vorlesungen an der School of Anatomy, freundet sich mit anderen Wissenschaftlern an und eröffnet nach nur sieben Jahren in London sein eigenes Geschäft, über das er Geräte für den Chemiebedarf vertreibt.
Bekanntheit erlangt er aber durch seine öffentlichen Darbietungen, in denen er einem staunenden Publikum angewandte Chemie näherbringt. Er reist damit durchs Land und hat den Anspruch, »chemische Wissenschaft mit rationaler Unterhaltung« zu verbinden. Damit liegt er im Trend: Gerade erst von Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) den Händen der Alchemie entrissen, ist die Chemie eine populäre neue Wissenschaft geworden – sowohl in den Kreisen der gebildeten Gesellschaft als auch in den Fabriken der Industrie. Und in den Hinterzimmern der Nahrungsmittelhersteller.
»Von der Verfälschung der Nahrungsmittel und von den Küchengiften«
Diese Entwicklung erkennt auch Accum. Im Jahr 1820 veröffentlicht er ein Buch, das in London einschlägt wie eine Bombe. Das Buch trägt den etwas sperrigen Titel »Treatise on the Adulteration of Foods and Culinary Poisons, Exhibiting the Fraudulent Sophistications of Bread, Beer, Wine, Spirituous Liquors, Tea, Coffee, Cream, Confectionery, Vinegar, Mustard, Pepper, Cheese, Olive Oil, Pickles, and Other Articles Employed in Domestic Economy, and Methods of Detecting Them« – zu Deutsch: »Von der Verfälschung der Nahrungsmittel und von den Küchengiften oder von den betrügerischen Verfälschungen des Brodes, Bieres, Weins, der Liqueurs, des Thees, Kaffees, Milchrahms, Confekts, Essigs, Senfs, Pfeffers, Käses, Olivenöls, der eingelegten Gemüse und Früchte und anderer in der Haushaltung gebräuchlicher Mittel und von den Mitteln, dieselben zu entdecken«. In seiner Abhandlung zeigt Accum auf, welche Methoden bei der Herstellung von Nahrungsmitteln aller Art angewandt werden, um diese über ihren Wert verkaufen zu können. Da wären beispielsweise alter, farbloser Cayennepfeffer, der mit rotem Blei versehen wieder eine frische, aber wenig gesunde Farbe erhält, oder Butter von minderer Qualität, die mit Reis- oder Pfeilwurzmehl gemischt sehr viel cremiger wird. Ein eigenes Kapitel widmet Accum gepanschten Weinen. Kurzum: Die Fälschungen sind überall!
Darüber hinaus zeigt Accum auf, wie man mit oftmals einfachen chemischen Methoden solche Fälschungen durchschauen kann. Diese Kombination aus Enthüllungsbuch und Hilfe zur Selbsthilfe kommt an. Das Buch ist ein Riesenerfolg, innerhalb eines Jahres wird schon die zweite Auflage gedruckt.
Accum listet auf, welche Händler Schwindler sind
Doch Accum macht sich damit auch viele Feinde. Nicht nur, weil er Konsumentinnen und Konsumenten darauf aufmerksam macht, was tatsächlich in ihren Nahrungsmitteln steckt. Im Anhang seines Buchs listet er auch fein säuberlich jene Produzenten und Händler auf, die ihre Lebensmittel manipulieren. Und er fordert seine Leser auf, diese Verkäufer zu meiden.
Dass das unrühmliche Ende von Accums Karriere als großer Aufklärer mit denen zu tun hat, die er in seinem Buch anprangert, ist allerdings unwahrscheinlich. Tatsache ist, dass Anfang des Jahres 1821 ein Prozess gegen ihn angestrebt wird. Der Vorwurf lautet, er habe Seiten aus Büchern der Bibliothek des Royal Institut herausgerissen und entwendet. Tatsächlich finden sich bei einer anschließenden Hausdurchsuchung diverse Buchseiten.
Der Skandal beendet die literarische Laufbahn Accums, sein Verlag Longman, Hurst, Rees, Orme & Browne kündigt die Zusammenarbeit. Die Zeitungen des Landes machen sich über den noch wenige Monate zuvor gefeierten Accum lustig. Auch die High Society wendet sich von ihm ab. Die gesamte Angelegenheit ist für Accum so peinlich, dass er den Ausgang des Prozesses – trotz der Unterstützung zweier Freunde, die vor Gericht für ihn bürgen – nicht abwartet. Noch 1821 verlässt er nach 30 Jahren England.
Zurück in Deutschland, findet er schließlich eine Anstellung als Professor für Physik, Chemie und Mineralogie in Berlin. Sein Werk über Lebensmittelfälschungen wird nach seiner Rückkehr noch in mehreren Sprachen auf der ganzen Welt veröffentlicht. Friedrich Accum stirbt 1838 im Alter von 69 Jahren. Nach England – dem Land seines kometenhaften Aufstiegs, aber auch rasanten Falls – war er nie mehr zurückgekehrt.
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