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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines unwahrscheinlich erfolgreichen Gemüses

Schön anzusehen waren sie ja, diese goldenen Äpfel. Aber reinbeißen? Beinahe wären Tomaten reine Kuriositäten in Europa geblieben. Wieso, das erzählen unsere Geschichtskolumnisten.
Illustration einer gelben Blume mit rosa Mitte, begleitet von einer großen, gerippten Frucht in Rot- und Grüntönen. Daneben sind kleine blaue Blüten und grüne Blätter zu sehen. Eine Fliege sitzt auf einem der Blätter. Die Zeichnung zeigt botanische Details und vermittelt einen natürlichen, künstlerischen Eindruck.
Zu Beginn ihrer europäischen Karriere war die Tomate noch eher ein Ziergewächs als ein Nahrungsmittel. Denn die Viersäftelehre riet von ihrem Verzehr ab, da mochte sie noch so gut schmecken. Die Buchillustration von Joris Hoefnagel stammt aus den Jahren 1591/1592.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Am 31. Oktober 1548 erhielt der toskanische Herzog Cosimo de' Medici einen Korb voller exotischer Früchte, geschickt von einem seiner Landgüter. Gegessen hat er sie wahrscheinlich nicht, aber wohl dennoch bewundert, diese fremdartigen »Goldäpfel«, die er als Schaustück hatte anpflanzen lassen. Diese Episode, in der die Tomate in Europa erstmals schriftlich fassbar wird, steht ganz am Anfang einer unvergleichlichen gemüsialen Erfolgsgeschichte: Es ist die Geschichte einer Pflanze, die zunächst als Ziergewächs die europäischen Renaissancegärten schmückte, als ungesund galt – und Jahrhunderte später zum weltweit meistkonsumierten Gemüse wurde.

Zunächst jedoch lagen vor der Tomatenlieferung an den Medici-Hof zwei Jahrzehnte, in denen die Tomate den Sprung über den Atlantik machte. Alles begann mit der gewaltsamen Eroberung des Aztekenreichs durch die spanischen Konquistadoren unter dem Kommando von Hernán Cortés zwischen 1519 und 1521. Hier kamen erstmals Europäer mit der Tomate in Kontakt. Denn das Fruchtgemüse war bei den Azteken – aber wohl nicht von ihnen – längst domestiziert worden. Heimisch ist die Wildform der Tomate viel weiter im Süden, vor allem in der Küstenregion im Westen, in Peru und im Norden Chiles. Wie die Nutztomate ins heutige Mexiko kam, wo die Spanier sie kennen lernten, ist nicht belegt.

Auch wann und wie oft sie an Bord der Konquistadorenschiffe den Atlantik Richtung Europa querte, ist nicht sicher. Klar ist nur: Mit der Tomate kamen auch Mais, Tabak und die Kartoffel in die Alte Welt. Doch über die Einfuhr von Pflanzen oder ihren Samen wurde weit weniger akribisch Buch geführt als über das verschiffte Gold und Silber. Kein Wunder: Auf Edelmetall musste man Abgaben zahlen, auf das Gemüse nicht. So verbreiteten sich die Gewächse anfangs weitgehend unbemerkt in Spanien und Italien. Welchen immensen kulinarischen Einfluss sie einmal haben würden, ahnte noch niemand.

Giftig und ungesund

Zumal die Tomate – und auch die Kartoffel – in Europa lange als ungenießbar galt, weil giftig. Tatsächlich gehört sie zu den Nachtschattengewächsen. Diese hatten seit jeher eine wichtige Bedeutung, allerdings nicht als Nahrungsmittel, sondern als Heilpflanzen – und als Genuss- und Rauschmittel. Sie enthalten nämlich Alkaloide. Das Solanin wirkt auf das zentrale Nervensystem, und das kann je nach Pflanze und Dosierung unterschiedliche Folgen haben. Manche lösen Halluzinationen aus; bei anderen kann der Konsum sogar tödlich enden, wie etwa beim Stechapfel oder bei der Tollkirsche.

Dass die Azteken Tomaten für Soßen verwendeten, wurde in Europa anfangs ignoriert. Was man in Mittel- und Südamerika schon wusste, aber in Europa anfangs noch nicht: Wenn Tomaten reif sind, ist ihr Verzehr unproblematisch. Denn das Solanin lagert sich vor allem in grünen Pflanzenteilen ab. Doch selbst als längst klar war, dass von den roten Früchten keine Gefahr ausgeht, spielten sie in der Küche nur eine Nebenrolle. Und das hatte mit der gängigen medizinischen Krankheitslehre zu tun: der Viersäftelehre oder Humoralpathologie.

Goldener Apfel oder Tomate?

Krank sein bedeutete nach den antiken Autoren Galen und Hippokrates, dass die vier Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle) nicht mehr im Einklang miteinander standen. Das fehlende Gleichgewicht der Körpersäfte meinte man durch bestimmte Maßnahmen wiederherstellen zu können: Beim Aderlass beispielsweise wurde »überschüssiges« Blut abgezapft. Doch auch die Ernährung sollte für Balance sorgen. Nahrungsmittel wurden dazu in das so genannte galenische Viererschema (warm, kalt, feucht und trocken) eingeteilt. Gemäß dieser Einteilung wurde die Tomate am äußersten Rand von »kalt« und »feucht« platziert, damit galt sie als eher ungesund. Oder jedenfalls nur zu empfehlen für jemanden, dessen Säftegleichgewicht ins genau entgegengesetzte Extrem verschoben war.

Allen anderen drohte durch Tomatengenuss – dasselbe galt für Auberginen – ein Übergewicht von »Schleim« und dadurch unter anderem Trägheit und ganz allgemein eine Verstimmung von Verdauung und Gemüt. All das sorgte dafür, dass sich das Gemüse nur langsam auf den europäischen Tellern breitmachte.

Die erste Erwähnung der Tomate in der Literatur stammt vom italienischen Arzt und Botaniker Pietro Mattioli. Er beschrieb 1544 die Tomate als eine Art Aubergine, die in reifem Zustand rot oder golden ist. Zehn Jahre später aktualisierte er die Beschreibung und nannte die Pflanze bei ihrem damals offenbar gebräuchlichen Namen, der schon seinerzeit am Medici-Hof Verwendung fand und noch heute in Italien gängig ist: goldener Apfel, »pomo d'oro« oder schlicht »pomodoro«. Eigentlich eine Verlegenheitsbildung, denn der Bestandteil »-apfel« konnte auch für alle möglichen anderen Früchte stehen, man denke etwa an das deutsche Wort »Erdäpfel« für Kartoffeln. Und wie angemessen die Beschreibung von Tomaten als »golden« ist, kann jeder und jede selbst entscheiden. Das Wort »Tomate« übernahmen die Konquistadoren (und mit ihnen viele europäische Nationen) hingegen von den Azteken, die das Gewächs »Xitomatl« nannten.

Die Tomatensoße betritt die Bühne

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts nahm die Entwicklung jedoch endgültig Fahrt auf. Die erste bekannte Erwähnung in einem Kochbuch findet sich bei Antonio Latini, einem Koch am Hof von Neapel. »Lo scalco alla moderna« erschien 1694 und enthielt drei Rezepte mit Tomaten. Was zeigt: Nun waren Tomaten auch auf den Tellern angekommen, wie David Gentilcore in seinem Buch »Pomodoro! A History of the Tomato in Italy« schreibt. Die Tomatengerichte nannte Latini allerdings bezeichnenderweise »alla Spagnola«, also »nach spanischer Art«.

Der unaufhaltsame Aufstieg der Tomate als Nahrungsmittel fiel zusammen mit dem Ende der Gewürzküche, wie sie an den Fürstenhöfen bis dahin üblich war und sich auch noch – trotz der drei Tomatengerichte – im Kochbuch von Latini wiederfindet. Der beschreibt in seinem Werk, welche Speisen er für die opulenten Hofbankette zubereitet hatte. Und da gab es jede Menge Zimt, Zucker, Nelken oder Muskatnuss und noch allerhand andere exotische Gewürze.

Doch diese Art zu kochen fand immer weniger Anklang. Mit Beginn der kulinarischen Neuzeit wurden Tomaten auch nicht mehr roh gegessen. Stattdessen verbreitete sich das Fruchtgemüse immer mehr, weil durch Reduzieren Tomatenmark hergestellt werden konnte – das sich hervorragend als Basis für Soßen eignete.

Gerichte, die an Pasta und Pizza erinnern, gibt es schon deutlich länger, wenn auch nicht in der uns heute geläufigen Kombination mit Tomatensoße. Diese tauchte erst im 18. und 19. Jahrhundert auf, und das zunächst auch nur in einigen Regionen Italiens. Erst in den Kreisen italienischer Auswanderer in den USA entwickelte sich mit der Zeit so etwas wie eine gemeinsame italienische Landesküche, die dann über den Atlantik rückimportiert wurde, wie Alberto Grandi in seinem Buch »Mythos Nationalgericht« schreibt.

Aber nicht nur in Italien ist die Tomate aus den Kochtöpfen nicht mehr wegzudenken. Auch dank Ketchup, indischen Currys oder dem arabischen Schakschuka sind Tomaten das am meisten gegessene Gemüse der Welt. Jährlich werden heute fast 200 Millionen Tonnen geerntet. Im Schnitt isst jeder in Deutschland jedes Jahr 30 Kilo davon.

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