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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom Untergang des alten Ägypten

Das Land am Nil war geteilt, die Macht des Pharao erloschen. Wie die Menschen vor gut 3000 Jahren diese Zeit erlebten, verrät ein rätselhafter Papyrus, erzählen unsere Kolumnisten.
Eine antike archäologische Stätte mit Überresten großer Steinskulpturen. Im Vordergrund steht ein beschädigter Torso einer Statue, während im Hintergrund eine liegende Statue und mehrere verstreute Steinelemente zu sehen sind. Der Himmel ist klar und blau, und die Umgebung ist eine trockene, sandige Landschaft.
Zwei Königsstatuen im Ruinenfeld von Tanis im Nildelta: In der Stadt regierte im 11. Jahrhundert v. Chr. Smendes I. Im »Bericht des Wenamun« besucht der Protagonist den Ort und trifft den König.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Wenn ein Staat zerfällt, dann geschieht das meist nicht über Nacht. Vielmehr schwinden Macht und Stabilität schleichend. Ein sicheres Zeichen für den Niedergang ist, wenn der Staat seine Deutungshoheit verliert.

So erging es Ägypten in der Zeit nach 1100 v. Chr.

Von diesem Zerfall erzählt ein altägyptischer Text aus dem 10. Jahrhundert v. Chr. in einer Deutlichkeit, die bis heute beeindruckt: der »Bericht des Wenamun«, der auf einem Papyrus im Moskauer Pushkin Museum überliefert ist. Die Erzählung führt in eine Welt, die aus den Fugen geraten ist und in der sich alte Gewissheiten aufgelöst haben.

Kein Rechenschaftsbericht, sondern ein Seismograf seiner Zeit

Der russische Ägyptologe Wladimir Golenischtschew (1856–1947) hatte das Schriftstück Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Antiquitätenmarkt in Kairo entdeckt. Die genaue Herkunft des Papyrus ist unbekannt, doch Golenischtschew hatte seinen besonderen Wert sofort erkannt.

Der Anfang der Schriftrolle ist fragmentiert, das Ende verloren. Übrig ist ein Text, den Fachleute zunächst als nüchternen Reise- und Rechenschaftsbericht verstanden. Ein Beamter wurde entsandt, erfüllte seinen Auftrag und kehrte zurück. So lautete die erste Deutung.

Doch ab der Mitte des 20. Jahrhunderts änderte sich diese Perspektive grundlegend. Die Forschung entlarvte die scheinbare Sachlichkeit des Textes als literarischen Kniff. Der Ich-Erzähler Wenamun verhält sich in der Geschichte nämlich nicht besonders souverän, sondern ist zunehmend überfordert. Er berichtet nicht in der Rückschau, sondern mitten aus dem Geschehen. Er wird verspottet, er weint, er scheitert – und spricht all das offen aus. Ein echter Verwaltungsbericht hätte solche Szenen wohl niemals enthalten.

Es handelt sich also um ein literarisches Werk, das vor einem historischen Hintergrund spielt. Warum das alles? Vermutlich sollte der »Bericht des Wenamun« mit erzählerischen Mitteln aufzeigen, was es bedeutet, wenn ein Imperium zerbricht, es seine politische Macht, seinen wirtschaftlichen Einfluss und seine religiöse Oberhoheit verliert und was der Zerfall mit den Menschen macht.

Wenamuns Mission: Holz für den Gott Amun

Wenamun wurde ausgesandt, um aus dem Libanon Zedernholz für die Barke des Gottes Amun in Theben zu beschaffen. Diese Barke stellte ein zentrales rituelles Objekt dar. Ohne sie konnte der Gott nicht sichtbar werden – also sein Kultbild nicht aus dem Sanktuar getragen werden. Der Gott war somit nicht handlungsfähig und konnte nicht verehrt werden.

Ramses XI. rief eine neue Epoche aus, die er »Erneuerung der Geburten« oder »Wiederholung der Schöpfung« nannte

In Ägypten selbst wuchsen keine geeigneten Hölzer. Das Land am Nil richtete daher seinen Blick auf die Levante. Man verstand die Küstenregion traditionell als Einflussgebiet und deren Rohstoffe als von den Göttern erteilten Besitz.

Wenamun reiste im Auftrag des Amun und in Begleitung von dessen Götterstatue, die ihm theologisch begründete Autorität verleihen sollte. Alles schien in bester Ordnung. Politisch war das Reich, in dessen Namen er sprach, allerdings längst zerfallen.

Die verpuffte Renaissance des Ramses

Zur Zeit seiner Reise existierte Ägypten nur noch formal als vereintes Königreich. Im Süden regierte Herihor, Hohepriester und faktischer Herrscher von Theben. Im Norden kontrollierten Smendes und seine Gattin Tentamun das Nildelta. Ramses XI., offiziell noch Pharao, hatte keine reale Macht mehr, versuchte aber, das Ruder herumzureißen: Er rief eine neue Epoche aus, eine Renaissance, die er Wehem-mesut-Ära – »Erneuerung der Geburten« oder »Wiederholung der Schöpfung« – nannte. Ramses hatte den Begriff wohl bewusst gewählt, um zu suggerieren, dass Chaos und Teilung überwunden seien. Tatsächlich verbarg sich dahinter ideologisches Wunschdenken.

Entscheidungen traf nun nicht mehr der König kraft seines Amtes, sondern Orakel bestimmten den Lauf der Dinge. Der Gott Amun sollte über Tempel, Beamte und Verwaltung herrschen. Für die innere Stabilität war es ein Rettungsversuch. Nach außen allerdings, in der Welt jenseits des Niltals, hatte Ägypten damit kaum noch etwas zu bieten. Dort zählten weder Königstitel noch Götternamen, sondern Silber, Verträge und Macht.

Wenamun begann seine Reise im Jahr 5 der »Erneuerung«, also ungefähr um 1085/84 v. Chr. Er gelangte zunächst nach Tanis, ins Machtzentrum des Nordens. Dort wurde er offiziell empfangen, seine Mission bestätigt. Allerdings zeigten sich hier schon erste Probleme. Er verließ Ägypten nicht auf einem staatlichen Schiff, sondern in Begleitung eines syrischen Kapitäns. Außerdem ließ er seine offiziellen Schreiben zurück. Was wie ein harmloser Formfehler wirkte, sollte sich später als verhängnisvoll erweisen.

In Dor, einer Hafenstadt der Tjeker, die zu den sogenannten Seevölkern zählten, wurde Wenamun bestohlen. Ein Mitglied seiner eigenen Schiffsmannschaft entwendete das gesamte für den Holzkauf vorgesehene Silber. Als Wenamun sich beim lokalen Fürsten darüber beschwerte, erhielt er eine kühle Antwort: »Bist du ernsthaft oder machst du Witze?« Der Dieb gehöre zu seiner eigenen Crew, also solle er seine Probleme selbst lösen.

Neun Tage blieb Wenamun untätig. In dieser Zeit wurde ihm zwar nichts angetan, aber man kümmerte sich auch nicht um ihn. Damit war seine Mission bereits gescheitert. Ohne Geld, ohne Papiere, ohne Anerkennung war Wenamun kein Gesandter mehr, sondern ein machtloser Mann auf einem unberechenbaren Weg.

Schutzlos, machtlos, Geld los

Als er weiterzog, traf Wenamun erneut auf Schiffe der Tjeker und ergriff die Gelegenheit: 30 Deben Silber, ungefähr die gestohlene Summe, nahm er der Besatzung ab. Es gehe ihm nicht um Rache, wie er sagte, vielmehr nehme er eine »Pfändung« vor. Damit folgte Wenamun einem alten Prinzip, das auf kollektiver Verantwortung basierte.

Allerdings funktionierte dieses Prinzip nur, wenn man Macht hatte. Wenamun hatte keine. Für die Tjeker war er kein Geschädigter, sondern ein Dieb. Der Text kehrt hier die Verhältnisse um: Selbst wer recht hat, verliert, wenn er keine Mittel besitzt, seine Ansprüche durchzusetzen.

Wenamuns nächstes Ziel war Byblos, eine Stadt mit langer ägyptischer Tradition. Wenn irgendwo noch etwas von der alten Ordnung lebte, dann dort. Wenamun legte im Hafen an und wartete. 29 Tage lang hörte er immer wieder denselben Satz: »Geh weg aus meinem Hafen!«, ließ ihn der Fürst von Byblos, Zakarbaal, wissen.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Während eines Rituals geriet ein Mann des Fürsten in Trance. In seiner Ekstase sprach er mit der Stimme von Amun und befahl: »Bring den Boten.« Der Fürst ließ Wenamun vorladen.

Was nun folgt, ist der rhetorische Kern des Berichts: Zwei Welten prallten aufeinander.

Zunächst fragte Zakarbaal nach Wenamuns Empfehlungsschreiben – das der Ägypter bekanntlich nicht dabeihatte, und ihn in eine schlechte Ausgangslage brachte. Auf die Frage, was er denn nun wolle, antwortete Wenamun: Holz für Amuns Barke. Und selbstverständlich erwartete er, welches zu bekommen – weil es schon immer so gewesen war. Zakarbaal ließ alte Archivdokumente bringen und legte dar: Selbst zu Zeiten der großen Pharaonen hätte man für das Holz gezahlt. Entgegen Wenamuns Überzeugung seien die Zedern nämlich weder Tribut noch Geschenk gewesen. Wenn Ägypten also etwas wollte, dann musste es dafür zahlen.

Machtlos wie das Land am Nil war, konnte es nun keine Ansprüche mehr stellen.

Der Fürst ließ ihn ziehen – schutzlos

Wenamun musste sich fügen. Er sendete eine Liste nach Tanis, mit der Bitte, ihm Gold, Silber, Leinen, Linsen und Fisch zu schicken. Als die Lieferung eintraf, setzte sich die Maschinerie in Gang. 300 Männer und 300 Ochsen fällten die Zedern und transportierten sie zum Strand.

Wenamuns Bericht beschreibt den politischen Zerfall des späten Ägypten und macht ihn spürbar

Doch als Wenamun aufbrechen wollte, liefen elf Schiffe jener Tjeker ein, die der Ägypter bestohlen hatte. Sie forderten seine Auslieferung. Zakarbaal blieb höflich. Er ließ Wenamun absegeln. Draußen auf dem Meer, so sagte er, dürften ihn die Tjeker aber verfolgen.

Wenamun floh aufs Meer. Ein Sturm kam auf und rettete ihn vor seinen Verfolgern. Sein Schiff trieb jedoch nach Zypern ab. Dort angekommen, erwartete ihn ein aufgebrachter Mob, der ihn töten wollte. In letzter Minute gelang es Wenamun, durch einen Dolmetscher zur Fürstin des Landes zu sprechen. Er appellierte ein letztes Mal an göttliche Gerechtigkeit. Die Fürstin ließ ihn für eine Nacht gewähren.

Dann bricht der Text ab.

Diagnose eines Untergangs

Der Bericht endet so wie die Welt, die er beschreibt: fragmentarisch und offen. Heute stützt das seine literarische Wirkung, aber ob der Text auch im 10. Jahrhundert v. Chr. so enden sollte, ist unbekannt. Sicher ist: Wenamuns Bericht war kein behördliches Dokument, sondern eine erzählerische Diagnose. Er beschreibt den politischen Zerfall des späten Ägypten und macht ihn sogar spürbar.

Wahrscheinlich war der Text an die thebanische Elite im Süden Ägyptens gerichtet. Man fragte, was bleiben würde, wenn nichts mehr funktionierte. Die Antwort war ernüchternd. Weder der Pharao noch seine Titel oder Archive konnten die Ordnung aufrechterhalten. Auch die Götter galten nicht mehr uneingeschränkt als absolute Instanz, ihre Macht hing vom jeweils gültigen Glauben ab.

Wie der Theologe und Ägyptologe Bernd Schipper von der Humboldt-Universität zu Berlin schreibt, erzählt der »Bericht des Wenamun« nicht einfach von einem Kollaps am Ende der Bronzezeit, sondern er ist selbst ein Ausdruck davon. Die Staaten, ihre Vasallenverhältnisse und die Welt der diplomatisch gesicherten Ordnung waren verschwunden. An ihre Stelle traten Unsicherheit, Willkür und Marktlogik. Wer nicht zahlen konnte, bekam nichts. Wer keine Macht hatte, wurde ignoriert.

  • Quellen
Schipper, B. U., Die Erzählung des Wenamun, 2005

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