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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer Frau, die Axolotl und die Zoologie verwandelte

Larve oder ausgewachsenes Tier? Was Marie von Chauvins bahnbrechende Experimente mit der modernen Zoologie zu tun haben, erzählen die Geschichtskolumnisten Hemmer und Meßner.
Ein Axolotl im Larvenstadium

Schon der Name klingt für europäische Ohren ungewohnt: Axolotl. Das Wort stammt aus dem Nahuatl, der Sprache der Indigenen aus dem heutigen Mexiko. Aber vor allem waren es die rätselhaften Eigenschaften dieses Tiers, die die frühen Naturforscher verblüfften. Alexander von Humboldt hatte zwei Exemplare davon an das Pariser Naturkundemuseum geschickt, wo Georges Cuvier die Lieferung aus Mexiko im Jahr 1804 in Empfang nahm.

Der Axolotl (Ambystoma mexicanum) ist ein Schwanzlurch aus der Familie der Querzahnmolche, ungefähr 25 Zentimeter lang, ursprünglich meist dunkelgrau oder braun mit jeweils drei Kiemenästen rechts und links vom Kopf, was die Tiere sehr charakteristisch aussehen lässt. Aber Cuvier wusste nicht so recht, wie er sie einordnen sollte: Handelte es sich um Larven, oder waren es bereits ausgewachsene Tiere?

Die Axolotl stellte die Naturforscher vor einige Rätsel

Wie die Geschichte von da an weiterging, schildert der Wissenschaftshistoriker Christian Reiß in seiner Dissertation an der Universität Regensburg. Laut Reiß kam der Axolotl ursprünglich nur in einem kleinen, begrenzten Bereich auf der Erde vor: den Kanälen und Feuchtgebieten von Xochimilco, einer Region am südlichen Rand von Mexiko-Stadt. Den europäischen Naturkundlern aber waren die ungewöhnlichen Tiere völlig unbekannt.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Wenn es sich bei dem Tier um eine Amphibie handelt, schlussfolgerte Cuvier, dann mussten die zwei konservierten Exemplare auf seinem Labortisch das Larvenstadium des Tiers darstellen. Er dachte an denselben Vorgang, den man von Kaulquappen und Fröschen kennt: Wie alle Amphibien können Frösche zwar mindestens teilweise an Land leben, sind aber zur Fortpflanzung auf ein Gewässer angewiesen, wo sie ihre Eier legen. Es schlüpfen kiemenatmende Larven, und nach einer Metamorphose entwickelt sich ein Tier, das mit einer Lunge atmet und an Land lebt.

Cuvier untersuchte die beiden Exemplare, bei denen er Kiemen und eine Lunge feststellte, und kam zu dem Schluss, dass es sich um die Larven eines Salamanders handeln müsse, die nach der Metamorphose ihre Kiemen noch verlieren würden. In den folgenden Jahrzehnten kamen zwar Zweifel an Cuviers Theorie auf, aber solange keine lebenden Axolotl untersucht und beobachtet werden konnten, war eine Lösung nicht in Sicht.

Das Rätseln geht weiter: Die Axolotl verwandeln sich

Im Jahr 1864 war es dann endlich so weit: Die ersten lebenden Exemplare trafen in Europa ein. 33 schwarze und ein weißer Axolotl, wiederum in jenem merkwürdigen Zwischenzustand mit Lunge und Kiemen. Es waren die Gründer einer stattlichen europäischen Population, denn einige Jahrzehnte später ging der Bestand auf dem Kontinent bereits in die Zehntausende – allesamt Nachfahren jener 34 Axolotl, da bis 1914 keine weiteren Tiere nach Europa eingeführt wurden.

Seltener Landgänger | Die Abbildung in »Franz Hoffmann's neuer Deutscher Jugendfreund« von 1885 gibt den neuesten wissenschaftlichen Stand der Zeit wieder: Aus einem Axolotl kann tatsächlich auch ein Landbewohner werden.

André Duméril, ebenfalls vom Pariser Naturhistorischen Museum, ist dieser Zuwachs zu verdanken. Ihm war es als Erstem gelungen, die Tiere zu verpaaren. Damit schien sich aber zugleich die Ausgangsfrage erübrigt zu haben: Wenn sich diese Axolotl vermehren konnten, musste es sich um ausgewachsene, geschlechtsreife Tiere handeln.

Oder nicht? Duméril beobachtete bei einigen wenigen Tieren plötzlich eine Veränderung. Die Kiemen verschwanden, Rücken und Schwanz formten sich ebenso um wie der Kopf, und die Haut bekam gelblich weiße Flecken. Die Tiere hatten sich offensichtlich von Wasser- zu Landtieren verwandelt: von kiemenatmenden Axolotl zu lungenatmenden Querzahnmolchen. Die Axolotl sind also Larven, so die neue Erkenntnis, die sich fortpflanzen können, und ein paar Exemplare verwandeln sich in Landtiere.

Damit war zwar das Rätsel um das Larvenstadium geklärt, allerdings ergaben sich daraus noch viel weitreichendere Forschungsfragen: Können sich alle Axolotl verwandeln? Und können sich die Querzahnmolche ebenfalls vermehren?

Experimente, die zum Vorbild für die moderne Zoologie wurden

Die Beantwortung dieser Fragen gelang schließlich einer Frau, die heute fast in Vergessenheit geraten ist und der eine akademische Karriere verwehrt blieb: Marie von Chauvin. Die 1848 in Berlin geborene Forscherin leistete mit ihren Experimenten Pionierarbeit. Im Privatstudium hatte sie sich die zoologischen Fachkenntnisse und wissenschaftlichen Arbeitsmethoden beigebracht und dann eigene Forschungen betrieben.

Marie von Chauvins Experimente an den Axolotl und anderen Amphibien sind wichtige Vorbilder für die experimentelle Forschung in den Anfängen der modernen Zoologie, schreibt Christian Reiß in seinem Buch »Der Axolotl. Ein Labortier im Heimaquarium«.

Ihr gelang nämlich, woran andere Forschende ihrer Zeit gescheitert waren: Sie konnte die Metamorphose der Tiere gezielt anregen. Damit bewies sie, dass sich prinzipiell alle Axolotl zu Landtieren entwickeln können. Und sie zeigte als Erste, dass auch die Landtiere in der Lage waren, sich fortzupflanzen.

In einem ihrer Experimente hat sie zum Beispiel die Versuchstiere über einen Zeitraum von mehreren Jahren in einer Zwischenform zwischen Wasser- und Landtier gehalten. Die Tiere lebten am Tag an Land und in der Nacht im Wasser. Im Jahr 1876 stellte sie ihre Erkenntnisse in einem Aufsatz »Über die Verwandlung der mexicanischen Axolotl in Amblystoma« der Fachwelt vor. Sie beschäftigte sich aber nicht nur mit Axolotl-Experimenten, sondern machte sich ebenfalls einen Namen mit der Untersuchung von Insekten, anderen Amphibien und Vögeln.

Sie leben in Millionen Aquarien und sind doch akut vom Aussterben bedroht

Auch dank der Arbeit von Marie von Chauvin wissen wir heute, dass die meisten Axolotl das Aussehen und die Lebensweise des Larvenstadiums behalten, dass sie als Dauerlarve leben. Das wird in der Zoologie als Neotenie bezeichnet: Ein Axolotl kann sein ganzes Leben als kiemenatmende Larve verbringen und wird trotzdem geschlechtsreif.

Bis heute sind die Tiere in zahlreichen wissenschaftlichen Laboren zu finden. Weil das Schilddrüsenhormon Thyroxin bei den Axolotl ihre Metamorphose auslöst, sind sie wichtige Versuchstiere in der Hormonforschung. Und eine weitere ganz besondere Eigenschaft macht sie für die Wissenschaft interessant: Sie haben die Fähigkeit, Gliedmaßen, Organe und auch Teile des Gehirns nachwachsen zu lassen. Das Genom des Axolotl ist bislang auch das größte entzifferte Genom.

Obwohl sie zu den wichtigsten Forschungsobjekten der Biomedizin gehören und in zahlreichen Wohnzimmeraquarien zu Hause sind, ist ihre Situation gleichzeitig dramatisch: Sie sind akut vom Aussterben bedroht. Ihre Wildpopulation wird auf nur noch 700 bis 1200 Individuen geschätzt.

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