Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Fischerjungen, der Japans Grenzen öffnete
Anfang des Jahres 1841 macht sich der Fischerjunge Manjirō auf den Weg, um Arbeit zu finden. Er kommt aus dem kleinen Dorf Nakanohama auf der südjapanischen Insel Shikoku und findet schließlich eine Beschäftigung im etwas größeren Fischerort Nishihama. Manjirō heuert als Fischer auf einem Boot an. Er ist eines von fünf Crewmitgliedern, und mit seinen 14 Jahren ist er der Jüngste. Als das Boot vom Hafen von Usa in See sticht, wissen die Männer noch nicht, dass zumindest einer von ihnen Geschichte machen wird und ihr Land in einigen Jahren nicht mehr dasselbe sein sollte. Laut den Erzählungen dieses Mannes und einer späteren historischen Niederschrift geschah das Folgende.
Anfänglich verläuft die Fahrt wenig zufrieden stellend, doch nach ein paar Tagen füllen sich die Netze mit Fischen. Vielleicht ob ihrer Freude über den großen Fang achten die Fischer nicht auf das Wetter, jedenfalls ignorieren sie einen aufziehenden Sturm. Schwer beladen können sie dem Unwetter nicht mehr entweichen. Ihr kleines Boot wird von Wind und Regen gebeutelt und ist bald nicht mehr manövrierbar.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.
Eine Woche treiben die fünf auf See, bis sie schließlich mit vereinten Kräften eine Insel erreichen. Die schroffen Klippen und starker Wellengang verhindern jedoch, dass sie ihr Boot an Land ziehen können. Es geht verloren. Die Männer finden heraus, dass die Insel – es handelt sich um das Eiland Torishima südöstlich von Japan im Pazifik – unbesiedelt ist. In einer kleinen Höhle finden sie Unterschlupf. Fünf Monate verbringen sie auf der Insel, ernähren sich von Meeresfrüchten und Albatrossen, bis schließlich am 27. Juni 1841 ein Schiff am Horizont auftaucht. Es ist die »John Howland«, ein Walfänger der unter US-amerikanischer Flagge fährt. Die Männer sind gerettet.
Die strikte Einreisepolitik Japans im 19. Jahrhundert
Ende gut, alles gut – möchte man meinen. Doch so einfach ist es nicht. Im Jahr 1841 wird Japan von der Shogun-Dynastie der Tokugawa regiert, die das Land außenpolitisch völlig isoliert. Fremden Schiffen ist es untersagt anzulegen und den Bewohnern des Landes verboten, ihr Land zu verlassen. Reisen sie dennoch aus, droht ihnen bei der Rückkehr die Todesstrafe.
Der Kapitän der »John Howland«, William Whitfield (1804–1886), ist sich dieses Umstands bewusst, dennoch beschließt er, die fünf Männer mitzunehmen. Als der Walfänger nach fünf Monaten im hawaiianischen Honolulu ankommt, hat sich der junge Manjirō mit der Crew angefreundet und bereits die Grundzüge der englischen Sprache gelernt. Die Männer des Walfängers, die den Jungen ins Herz geschlossen haben, gaben ihm den Namen »John Mung«.
Während Kapitän Whitfield es den restlichen vier Männern ermöglicht, auf Honolulu ein neues Leben zu beginnen, bietet er »John Mung« an, ihn in seine Heimat, die USA, zu begleiten. Manjirō ist einverstanden, und nach einer weiteren Walfangsaison landet die »John Howland« am 7. Mai 1843 in der Hafenstadt New Bedford, Massachusetts.
Hier beginnt Manjirōs neues Leben.
Manjirō vergisst seine alte Heimat nicht
»John Mung« lebt sich schnell ein. Bald nach der Rückkehr heiratet Whitfield seine Verlobte Albertina Keith, und die drei leben als Familie gemeinsam in Fairhaven, Whitfields Heimatort. Manjirō ist ein wissbegieriger Schüler. Sein Englisch ist nach kurzer Zeit so gut, dass er die örtliche Schule besuchen kann, ab 1844 dann die Bartlett School, an der er die Fächer Mathematik, Navigation und Vermessung belegt.
Der Junge ist mit großem Eifer dabei, denn er hat einen Plan. Er ist zwar zufrieden mit seinem Leben bei den Whitfields, doch seine alte Heimat hat er nicht vergessen. Er ist fest entschlossen wieder nach Japan zurückzukehren, koste es, was es wolle. Dafür geht er in die Lehre, erlernt den Beruf des Küfers, der ihm auf jedem Schiff einen Platz garantieren sollte.
Im Jahr 1846, mit 19 Jahren, heuert Manjirō auf dem Walfänger »Franklin« an. Nach drei Jahren auf See, inklusive eines Abstechers nach Honolulu, wo er seine alten japanischen Freunde trifft, kehrt er 1849 in die USA zurück.
Er setzt nun alles daran, so viel Geld wie möglich zu verdienen, um nicht nur sich, sondern auch seinen Freunden die Rückkehr nach Japan zu ermöglichen. Dabei kommt ihm der Goldrausch in Kalifornien gelegen. Manjirō reist nach Sacramento und kehrt nach einigen Monaten mit genug Geld zurück, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Eine Rückkehr mit Hindernissen
Manjirō reist zunächst wieder nach Honolulu, kauft sich dort die »Adventurer«, einen gebrauchten Walfänger, und gemeinsam mit seinen japanischen Freunden lässt er sich und sein Schiff an Bord des Cargotransporters »Sarah Boyd« in die Nähe der japanischen Ryūkyū-Inseln im Ostchinesischen Meer bringen. Abseits der Hauptinseln und damit weiter entfernt vom Einflussgebiet des Tokugawa-Regimes erhofft sich Manjirō eine etwas ungefährlichere Rückkehr in die Heimat.
Die »Adventurer« wird zu Wasser gelassen, und die Männer rudern an Land. Es ist der Februar des Jahres 1851, zehn Jahre nachdem sie das letzte Mal heimatlichen Boden unter den Füßen verspürt hatten. Obwohl sie anfangs noch die Hoffnung haben, sie könnten es vielleicht unbemerkt ins Landesinnere schaffen, muss diese schnell begraben werden. Nachdem sie zuerst Speis und Trank von örtlichen Bewohnern der Insel erhalten, werden sie bald darauf von den Behörden festgenommen.
Es beginnt ein Verhörmarathon, den sie anfangs in Okinawa, dann in Kagoshima und schließlich in Nagasaki verbringen, wo sie von den Beamten des Shoguns befragt werden. Es stellt sich heraus, dass die Neugier des Hofs an der westlichen Welt weit größer ist als das Beharren auf den Rechtsvorschriften, die eigentlich ihren Tod bedeuten.
Nach insgesamt anderthalb Jahren der Befragung werden Manjirō und seine Freunde schließlich frei gelassen. Manjirō, mittlerweile 25 Jahre alt, darf zum ersten Mal in sein Heimatdorf zurückkehren, um seine Mutter und den Rest seiner Familie wiedersehen.
Vom Fischerjungen zum Samurai
Die Zeit bei der Familie währt allerdings nur kurz: Nach nur drei Tagen wird Manjirō an den Hof eines reformwilligen Daimyōs gebracht, eines lokalen Fürsten. Jener macht den einstigen Fischerjungen zu einem offiziellen Mitglied seines Hofs und erhebt ihn in den Stand eines Samurais. Von nun an ist Manjirō Privatlehrer der Söhne seines Feudalherrn, bringt den Kindern westliche Technologien und die englische Sprache bei. Einige Jahre später veröffentlicht Manjirō sogar das erste japanische Lehrbuch der englischen Sprache.
Damit nicht genug: Als im Jahr 1853 der amerikanische Commodore Matthew Perry (1794–1858) mit seinen »Black Ships« in Japan landet und im Namen der USA die Öffnung Japans verlangt, wird Manjirō an den Hof des Shoguns berufen, um mit seinem Wissen über die westliche Welt und seinen Englischkenntnissen beratend zur Seite zu stehen. Gerade wegen seines Insiderwissens schlägt ihm aber auch Misstrauen entgegen – von den Gesprächen zwischen Japanern und Amerikanern wird er ausgeschlossen.
Trotzdem wird er zum Dank für seine Hilfe in den Rang eines Samurai des Shogunats gehoben. Weite Strecken seines Lebens verbringt Manjirō als Berater, Lehrer und Mitglied diverser Expeditionen im Rahmen der Meiji-Restoration – der Zeit, als sich in Japan die Entwicklung vom Feudalstaat zur militärischen Großmacht vollzog.
Manjirōs Stellung bleibt jedoch nicht erhalten. Nachdem er mit einer Delegation aus den USA zurückkehrt, wird er von wichtigen Positionen verdrängt und verbringt auch auf Grund gesundheitlicher Probleme die letzten Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1898 abseits der Öffentlichkeit. Was hatte sich Manjirō während des US-Besuchs zu Schulden kommen lassen? Er hatte die Delegation für einige Tage verlassen, um seinen Ziehvater William Whitfield 20 Jahre nach seiner Abreise aus den USA wiederzusehen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben