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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über die legendäre Rache der 47 Samurai

Die Geschichte der 47 Rōnin, die ihren Fürsten brutal rächten, ist nicht nur ein Mythos. Sie zeigt, warum Japan um 1700 keine Krieger mehr brauchte, berichten unsere Kolumnisten.
Bühnenszene eines Stücks über die 47 Rōnin, herrenlose Samurai, die ihren Fürsten rächen wollen und das Hause seines Konkurrenten überfallen.
Bühnenszene eines Stücks über die 47 Rōnin, herrenlose Samurai, die ihren Fürsten rächen wollten und dazu das Haus seines Konkurrenten überfielen. Die Zeichnung stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Der schwertschwingende Inbegriff von japanischem Ehrgefühl und bedingungsloser Treue waren – die Samurai. Doch als sich am Anfang des 18. Jahrhunderts Japan wandelte, musste sich auch die legendäre Kriegerkaste neuen Umständen anpassen: nämlich einer ungewöhnlich langen Friedenszeit, die keine Krieger mehr brauchte. Und so fanden sich die einst angesehenen Samurai in einer neuen Rolle wieder. Unter dem Shōgun des Hauses Tokugawa – jener regierte im Namen des machtlosen Kaisers über Japan – mussten die Lehensherren der Samurai regelmäßig ihre Ländereien verlassen und in die Hauptstadt Edo (heute Tokio) reisen. Sankin kōtai hieß die Regelung des Shōguns, mit der er die Fürsten des Landes, die Daimyōs, direkt kontrollieren wollte. Und damit auch die Samurai, die mehr und mehr zu Verwaltern und stillen Repräsentanten einer Kriegerkultur vergangener Zeiten werden sollten.

Die Geschichte von zwei dieser territorialen Fürsten zeigt nun, wie sehr sich die Gesellschaft Japans gewandelt hatte: Asano Naganori und Kira Yoshinaka. Asano war ein Daimyō aus Akō und wie alle Fürsten zum Sankin kōtai verpflichtet. Asano war jedoch nicht besonders wohlhabend und hatte Schwierigkeiten, die Kosten für die Reisen nach Edo zu tragen. Kira hingegen, in späteren Erzählungen oft als niederträchtiger, korrupter Beamter dargestellt, war ein hochrangiger Samurai, der direkt dem Shōgun unterstand. Obgleich er eine bedeutende Position einnahm, war auch er bei Weitem nicht so reich wie ein Daimyō. Doch als Mitglied einer altehrwürdigen Familie hatte er bereits mehreren Shōguns als Zeremonienmeister gedient.

Blutvergießen in der Burg

Am 21. April 1701 eskalierte ein Aufeinandertreffen zwischen Asano und Kira. Die Stimmung in der Burg von Edo war angespannt. Während einer Zeremonie, bei der kaiserliche Boten aus Kyōto in der Burg des Shōguns empfangen wurden, standen sich Asano und Kira gegenüber. Ihre Begegnung war alles andere als freundlich.

Aus Gründen, die bis heute im Dunkeln liegen, verlor Asano die Beherrschung. Er zog seinen Dolch – sein Katana hatte er abgelegt, weil Schwerter in der Burg nicht erlaubt waren –, griff Kira an und verletzte ihn im Gesicht, bevor herbeieilende Wachen Asano fortreißen konnten. Blut in der Burg zu vergießen, war ein schwerer Verstoß gegen die strengen Regeln des Shōgunats, ein Bruch der Etikette, der unter keinen Umständen toleriert werden konnte.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Die Konsequenzen für Asano waren verheerend. Er wurde zum rituellen Selbstmord (Seppuku) verurteilt – ein beispielloser Akt der Bestrafung, der das Ende seiner Familie und seines Lehens bedeutete. Seine Samurai wurden damit zu herrenlosen Kriegern, die ohne Meister und ohne Ehre in eine unsichere Zukunft blickten. Sie wurden zu Rōnin.

Die Hintergründe von Asanos Angriff sind bis heute Gegenstand von Spekulationen und Debatten. Eine verbreitete Theorie, Kira habe Bestechungsgelder von Asano verlangt, schätzen viele Historiker als unwahrscheinlich ein. Doch die Wahrheit wird für immer verborgen bleiben, weil nur Asano selbst seine Beweggründe kannte. Ungeachtet dessen markierte dieser Akt der Gewalt den Beginn einer Tradition, die jahrhundertelang die japanische Kultur und Geschichte prägen sollte.

47 Rōnin planten Rache

Nach dem Tod Asanos und der Auflösung seines Lehens waren seine ehemaligen Samurai herren- und obdachlos. Die häufigste Erzählung lautet, dass 47 dieser Samurai daraufhin beschlossen, ihren Herrn zu rächen. Aber in der Realität dürfte es komplexer abgelaufen sein, wie es sich aus historischen Quellen erschließen lässt.

Tatsächlich hatte Asano etwa 300 Samurai, von denen die meisten dem Befehl des Shōguns folgten und ihren Weg ohne ihren Daimyō fortsetzten. Im Lauf der Zeit entwickelten dann einige Rōnin den geheimen Plan, ihren Herrn zu rächen. Das Vorhaben sickerte allerdings in Adelskreisen, die wenig Begeisterung für die Rachegelüste der Samurai zeigten, durch. Die Oberschicht sah den Entschluss als ungerechtfertigt an. Der Shōgun und auch der Kaiser hielten Asanos rituellen Suizid ja für gerechtfertigt. Daraufhin standen die 47 Männer lange unter Beobachtung, bis man überzeugt war, die Rōnin hätten die Sache verworfen.

Wohl wissend, dass die Oberschicht ihre Rache missbilligte und sie sich auf Kollisionskurs mit den strengen Gesetzen des Shōgunats befanden, gingen die 47 Rōnin dennoch das Risiko ein und hielten an ihrem Plan fest.

In einer kalten Winternacht Ende Januar 1703, fast zwei Jahre nach Asanos Tod, führten sie ihn aus. Sie überfielen Kiras Residenz, töteten den Daimyō und präsentierten seinen Kopf auf dem Grab ihres Herrn – eine endgültige Geste der Rache und Loyalität.

Die Konsequenzen waren allerdings verheerend. 17 unschuldige Menschen aus dem Gefolge Kiras verloren in jener Nacht ihr Leben. Die überlebenden Rōnin, deren Ehre durch ihre Tat wiederhergestellt schien, wurden zum Seppuku verurteilt. Sie folgten ihrem Herrn in den Tod, ihre Familien wurden eingesperrt oder verbannt.

Schrein | Im Sengakuji-Tempel in Tokio bringen zwei Frauen Gaben dar. Die Stätte gilt als Grab der 47 Rōnin.

Die Ereignisse verdeutlichen eine tief greifende Veränderung, die die Samuraiklasse und die japanische Gesellschaft im 18. Jahrhundert durchlebten. Die Tat der 47 Rōnin war ein direkter Bruch mit den Regeln und Traditionen des Tokugawa-Shōgunats – sie zeigt, wie eine Gruppe Samurai gegen ihre neu definierte Rolle in der Gesellschaft aufbegehrte: Während jener Zeit, einer Ära lang anhaltenden Friedens, wurden die Samurai nicht mehr als Krieger gebraucht, vielmehr sollten sie lediglich an Hofzeremonien teilnehmen, als Verwalter tätig sein und sich neuen strengen Kodizes unterwerfen. Zudem sollten sie wie ihre Daimyōs nun dem Shōgun zur Verfügung stehen, der so das ganze Land unter seine Kontrolle bringen wollte. Es schien so, als ob die Rōnin mit ihrer brutalen Tat ein letztes Mal versuchten, das Ideal der mittelalterlichen Samurai zu verkörpern – loyale, ehrenhafte Krieger, die bereit waren, für ihren Herrn zu sterben, obwohl ihn der Shōgun als Kriminellen gebrandmarkt hatte.

Die Rache der 47 Rōnin stellt eine wichtige Episode in der Geschichte Japans dar, die weit über den Vorfall hinaus Bedeutung erlangte. Wie der Historiker John Tucker von der East Carolina University in Greenville in seinem Buch über den Mythos ausführt, kann der Angriff der Rōnin auf Kira und seine Gefolgschaft als eine Rebellion angesehen werden – gegen eine neue Rolle, die ihnen vom Shōgunat zugewiesen worden war. Die Kämpfer trafen damit den Zeitgeist.

Ein Mythos wurde geboren

Bereits wenige Tage nach dem Vorfall findet die Bluttat Einzug in die Populärkultur Japans. Theaterstücke, Bücher und später Filme verewigten die Geschichte der herrenlosen Rächer, oft unter starker Betonung der vermeintlichen Ehrenhaftigkeit der Samurai. Es war eine Welle der Nostalgie – die Menschen begeisterte, wie diese Geschichte eine geradezu romantisierende Version der Samurai und ihr Kriegerideal wachhielt.

Eines der bekanntesten Werke ist das Stück »Kanadehon Chushingura« aus dem Jahr 1748, das für das traditionelle Figurentheater (Bunraku) verfasst wurde. Die Tat der 47 Rōnin begründete sogar ein ganzes literarisches und künstlerisches Genre, das Chushingura, das bis ins 20. Jahrhundert hinein fortbestand und besonders während der Kriege Japans mit China als Ausdruck des Ideals der Samurai herangezogen wurde.

Die Geschichte der 47 Rōnin gehört trotz der historischen Unstimmigkeiten zu den wichtigsten und beliebtesten Mythen Japans. Sie wird in Denkmälern und Statuen im ganzen Land gewürdigt, insbesondere in Tokio und in Akō, der Heimatstadt des Daimyōs Asano. Jährlich werden in beiden Orten Festivals abgehalten, um an den Überfall der 47 herrenlosen Samurai zu erinnern. Auch wenn die Wahrheit hinter der Geschichte komplexer ist, bleibt die Legende ein fester Bestandteil der japanischen Kultur. Sie steht dabei sowohl als Symbol für Loyalität und Ehre als auch als Ausdruck des Widerstands gegen tief greifende gesellschaftliche Veränderungen.

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