Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines wahrhaft sensationellen Nashorns

Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.
Was die Lissabonner Hafenarbeiter da auf die Kaimauer wuchteten, war gut vier Monate lang unterwegs gewesen. Es hatte von Indien aus das Kap der Guten Hoffnung umrundet, war die gesamte Westküste Afrikas nordwärts gesegelt, war in die Mündung des Teje geschwenkt und hatte zu guter Letzt noch die verbleibenden paar Meilen in die Hauptstadt Manuels I. zurückgelegt. Nun, es war der 20. Mai 1515, bot sich Europa ein Anblick, wie es ihn seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte, wenn nicht gar seit Jahrtausenden: Aus dem Bauch des Schiffs kam ein Nashorn zum Vorschein, genauer gesagt ein Panzernashorn, auch Indisches Nashorn genannt, oder noch genauer: Rhinoceros unicornis.
Was Dickhäuter anging, waren die Europäer mit Elefanten einigermaßen vertraut, nicht aber mit Nashörnern. Die Szene im Hafen der portugiesischen Stadt sollte diese Bildungslücke füllen – auf äußerst nachhaltige Weise.
Denn unter den Zuschauern befand sich ein Buchdrucker namens Valentin Ferdinand, der augenscheinlich beeindruckt von der Ankunft des Nashorns einen Brief an die Nürnberger Kaufmannschaft verfasste. Vermutlich legte er dem Schreiben auch eine Skizze des Nashorns bei, die allerdings nicht mehr überliefert ist.
In der süddeutschen Stadt wiederum fand dieser Brief irgendwie seinen Weg zu Albrecht Dürer, der ihn zum Anlass nahm, in seiner Werkstatt einen Holzschnitt anzufertigen. Der Druck »Rhinocerus« erwies sich nicht nur als echter Verkaufsschlager, sondern prägte ganz nebenbei entscheidend das Bild, das sich die Menschen in Europa von Nashörnern machten. Vermutlich hielten sie es für eine am lebenden Objekt gezeichnete Abbildung. Ein Irrtum, wie man heute weiß, denn Dürer hatte genauso viele echte Nashörner gesehen wie echte Einhörner: kein einziges.
Die anatomischen Mängel seiner Darstellung waren ihm darum ebenso wenig bewusst wie den Betrachtern seines Werks. Zum Beispiel wirkt es, als stecke das Tier in einer Art Ritterrüstung, Schuppen an seinen Beinen erinnern an ein Kettenhemd. Und dann wächst dem dürerschen Nashorn auch noch ein weiteres Horn aus dem Nacken.
Ein Nashorn mit Ritterrüstung
Zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert sind gerade einmal acht Nashörner belegt, die die Überfahrt mit dem Schiff überlebt hatten. Alle anderen Versuche scheiterten. Auch das Lissabonner Nashorn fand ein feuchtes Ende: Es sollte als Geschenk an Papst Leo X. nach Rom gehen und das Ansehen Manuels I. bei Seiner Heiligkeit mehren; dazu kam es jedoch nicht, weil es unterwegs in einem Sturm im Mittelmeer ertrank. Mit Schiffen und Nashörnern ist es offenbar so eine Sache. Die Folge: Zwei Jahrhunderte lang bestimmte Dürers »Rhinocerus« die öffentliche Wahrnehmung, so unübersehbar, massiv und störrisch, wie es nur ein Nashorn vermag.
Erst die Nashorndame Clara konnte daran etwas ändern.
Je mehr europäische Schiffe über die Weltmeere schipperten, desto häufiger landeten auch fremdartige Tiere in den Häfen des Kontinents. Bald waren die Affen, Papageien, Raubkatzen oder Zebras nicht mehr nur für die fürstlichen Menagerien bestimmt, sondern verliehen auch den Jahrmärkten des einfachen Volks exotisches Flair. Im 18. Jahrhundert etablierten sich sogar spezialisierte Wandermenagerien, bei denen Neugierige die fremdartigen Wesen in so genannten Tierbuden bestaunen durfte, gegen Eintritt, versteht sich.
Viele Wildtiere überlebten die üblen Haltungsbedingungen nicht lange. Einige wenige aber wurden durch die Wandermenagerien zu regelrechten Berühmtheiten in ganz Europa. So wie ebenjene Clara.
Clara war ein 1738 geborenes Panzernashorn, das im Alter von etwa einem Monat seine Mutter durch Jäger verloren hatte und in die Obhut von Jan Albert Sichterman gekommen war, seines Zeichens Direktor der Niederländischen Vereinigten Ostindien-Kompanie für Bengalen (VOC). Nun, drei Jahre später, war das zahme Tier praktisch zum Haustier der Familie geworden.
Zu einem sehr großen und sehr schweren Haustier allerdings. Sichterman sann bereits auf Möglichkeiten, das Tier loszuwerden. Frei lassen war jedoch keine Option, da Clara sich bereits zu sehr an das Leben unter Menschen gewöhnt hatte.
Claramania in Europa
Die Lösung kam in Gestalt von Douwe Mout van der Meer: Kapitän eines Schiffs der VOC, Mitte 30 und drauf und dann, die Begegnung seines Lebens zu machen. Bei einer Abendveranstaltung Sichtermans lernte er 1741 Clara kennen, entschied sich, sie zu kaufen und das Risiko eines Schiffstransports nach Europa einzugehen.
Douwe Mout war bewusst, dass ein großer Teil der Tiere die monatelange Überfahrt nicht durchstand. Die Bedingungen an Bord eines Segelschiffs waren ohnehin schon schwierig, und so war die Versorgungslage der Tiere teilweise katastrophal. Ein Nashorn frisst bis zu 150 Kilo Gras am Tag, was an Bord in diesen Mengen überhaupt nicht zur Verfügung stehen konnte. Es mangelte an allem, auch am Süßwasser, das man brauchte, um die Haut des Tieres feucht zu halten. Stattdessen musste es regelmäßig mit Fischöl eingerieben werden. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz überstand Clara die Fahrt und betrat am 22. Juli 1741 in Rotterdam erstmals europäischen Boden, wie Glynis Ridley in ihrem Buch »Claras Grand Tour: Die spektakuläre Reise mit einem Rhinozeros durch das Europa des 18. Jahrhunderts« schreibt.
Für Nashorn wie Besitzer war es der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Douwe Mout gab seine Stelle als Kapitän der VOC auf und wurde Schausteller. Für den Transport seines außergewöhnlichen Exponats entwarf er ein eigenes Fuhrwerk, das von acht Pferden gezogen wurde. Ab 1746, also fünf Jahre nach der Rückkehr aus Bengalen, begann Douwe Mout mit seiner Tournee, die ihn und Clara die nächsten zwölf Jahre lang quer durch Europa führen sollte. Noch nie hatte ein Nashorn in Europa für so viel Aufsehen gesorgt, noch nie hatten so viele Menschen in diesen Gefilden die Möglichkeit gehabt, ein Nashorn zu sehen, das nicht gezeichnet oder gedruckt war.
Clara lockte auch die mächtigen Herrschaften. Friedrich II. von Preußen, das Habsburger Kaiserpaar Franz I. und Maria Theresia oder der französische König Ludwig XV., der Clara im Jahr 1749 sogar kaufen wollte – sie alle zählten zu den Besuchern Claras in ihrer Wandermenagerie.
Die »Rhinomanie« schlug sich in zahlreichen Bildern, Skizzen und Drucken nieder. Auch Gedenkmünzen wurden geprägt. Clara Superstar war überall. Fünf Monate blieben sie in Paris, wo Clara die Sensation auf dem Jahrmarkt in St. Germain war. Zahlreiche Briefe, Gedichte und Lieder wurden über sie geschrieben, so dass der deutsche Schriftsteller Friedrich Melchior Grimm bemerkte: »Paris, so leicht berauscht von kleinen Dingen, ist nun gefesselt von einem Tier genannt Rhinozeros.«
Clara löst Dürers »Rhinocerus« ab
Am 14. April 1758 starb Clara im Alter von ungefähr 20 Jahren in London – für Douwe Mout völlig unerwartet. Er kehrte daraufhin in die Niederlande zurück, wo sich seine Spur komplett verlor. Wie mit dem toten Tierkörper weiter verfahren wurde, ist ebenfalls nicht überliefert.
Mochte die echte Clara auch verschwunden sein, ihr Abbild blieb bestehen. Die »Encyclopédie« von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d'Alembert, eines der bahnbrechendsten wissenschaftlichen Werke der Aufklärung, enthält auch einen Eintrag über Nashörner – der auf Clara zurückgeht. Ebenso enthielt das Hauptwerk des französischen Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon (»Allgemeine Historie der Natur«), der Clara auch persönlich besichtigte, einen Kupferstich, auf dem ein Nashorn abgebildet ist – und es ist nicht Dürers »Rhinocerus« nachempfunden, sondern zeigt Clara. Die Abbildungen in diesen Werken verbreiteten sich in ganz Europa und machten Clara zum Idealtypus eines Nashorns.
Das Clara-Bild bei Buffon basiert übrigens auf einem lebensgroßen Porträt des Nashorns, das der französische Hofmaler Jean-Baptiste Oudry 1749 gefertigt hatte. Dieses Gemälde erwarb später der mecklenburgische Herzog Christian Ludwig II. und brachte es nach Schwerin, wo es für lange Zeit im Magazin verschwand. Erst 2003 begann ein vierjähriger Restaurierungsprozess im Getty Conservation Center in Los Angeles. Heute zählt das Bild zu den bekanntesten Werken des Staatlichen Museums Schwerin.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben