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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte des wahren Königs der Köche

Küchenbrigade, Saucensystematik, akribische Rezepte – Antonin Carême machte die französische Küche zur Wissenschaft. Und bezahlte dafür mit seinem Leben, erzählen unsere Kolumnisten.
Eine detaillierte Skizze eines Mannes in formeller Kleidung, mit einem Umhang und einer dekorativen Schleife um den Hals. Der Hintergrund ist schlicht gehalten. Auf der linken Seite befindet sich ein Stempel mit der Aufschrift "Boston Public Library". Unten rechts ist der Name "Antoine Carême" zu sehen.
Der Spitzenkoch revolutionierte die französische Küche: Antonin Carême in einem Porträt des Malers Carl von Steuben.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Im November 1807 war Paris im logistischen Ausnahmezustand. Der Vierte Koalitionskrieg war siegreich zu Ende gegangen, die Kaiserliche Garde kehrte in die Stadt zurück, und Napoleon ordnete zu diesem Anlass ein Bankett an – das die Kapazitäten der Metropole ausreizte. In den Küchen des Hôtel de Ville drehten sich sechs Ochsen am Spieß, flankiert von 75 Kälbern und Bergen an Geflügel. Mehr als Zehntausend Soldaten wurden in Massenabfertigung verpflegt, umwallt von Hitze, Rauch und Geschrei. Inmitten dieses Chaos arbeitete ein Mann, dessen eigentliche Berufung die Präzision war: Marie-Antoine Carême.

Der damals Mitte 20-Jährige, der später als Antonin Carême bekannt wurde, war eigentlich auf filigrane »pièces montées« spezialisiert – architektonische Schaustücke aus Zucker und Marzipan, die diplomatische Tafeln zierten. Die rohe Realität der Massenverpflegung kommentierte er später lakonisch: »Niemals war die Arbeit für die Köche höllischer.«

Diese Tage markierten allerdings eine Zeitenwende. Die Küche verließ die Ära der improvisierten Wirtshauszufälle und trat ein in eine neue Phase der Struktur. Carême spielte die zentrale Rolle in diesem Übergangsprozess: Er führte die Kulinarik von der Überwürzung in eine kodifizierte Ordnung der Moderne über.

Aufstieg aus der Armut

Carêmes Biografie begann am unteren Rand der Gesellschaft. Geboren 1783 oder 1784 in den Armenvierteln der Pariser Rive Gauche, wuchs er in einer Zeit politischer Instabilität auf. Die Überlieferung, sein Vater habe ihn als Kind in Paris mit den Worten ausgesetzt, er habe »nur seinen Geist«, um sein Glück zu machen, wurde lange als Tatsache gehandelt. Neuere Forschungen, wie jene der Historikerin Marie-Pierre Rey in ihrer Biografie »Le premier des chefs«, deuten jedoch darauf hin, dass Carême später durchaus noch Kontakt zu seiner Familie hatte. Dennoch war sein Werdegang der eines Autodidakten, der sich aus der Anonymität einer einfachen Garküche in die »haute cuisine« der Gesellschaft hocharbeitete.

Entscheidend für seine intellektuelle Entwicklung war der Wechsel in die Patisserie von Sylvain Bailly. Hier eignete sich der junge Carême nicht nur handwerkliche Fähigkeiten an, sondern begann, die Küche akademisch zu betrachten. So verbrachte er seine freien Stunden in der Nationalbibliothek, studierte die Architekturtraktate von Palladio und Vignola und übertrug deren Proportionslehren auf seine Arbeiten aus Zucker und süßem Teig. Diese Fähigkeit zur Konstruktion, zum Denken in soliden Strukturen, sollte seinen Ansatz am Herd prägen: Er verstand Kochen nicht als alchemistisches Geheimnis, sondern als System, das sich reproduzieren ließ. Doch bevor es so weit war, wurde er, ganz nebenbei, zum Koch der Könige und zum König der Köche.

Diplomatie geht durch den Magen

Der Diplomat Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838) erkannte nämlich das Potenzial des jungen Patissiers. Für Talleyrand war das Dîner eine Fortsetzung der Außenpolitik mit anderen Mitteln. Er beauftragte Carême, Menüs für ein ganzes Jahr zu kreieren, die auf saisonalen Produkten basierten und in denen sich kein Gericht wiederholte. Carême lieferte und wurde zum kulinarischen Arm der französischen Diplomatie.

Dies zeigte sich exemplarisch nach dem Einmarsch der Koalitionstruppen in Paris im Jahr 1814. Zar Alexander I. (1777–1825) residierte im Hause Talleyrands und verlangte während der Fastenzeit nach fleischlosen Speisen. Carême servierte »escargots de Bourgogne« – Weinbergschnecken, die kirchenrechtlich zulässig waren, aber von Carême gastronomisch so raffiniert zubereitet wurden, dass sie den Zaren überzeugten. In einer politisch heiklen Situation, in der die Nachfolge Napoleons noch ungeklärt war, brachte Alexander einen Toast aus, der weder den Bourbonen noch den Bonapartisten galt, sondern »Antonin Carême, dem König der Köche«. Damit beförderte der Zar die französische Küche zur kulturellen Hegemonialmacht, unabhängig von der militärischen Niederlage des Landes.

Eine Systematik für Soßen

Carêmes größte Leistung lag jedoch jenseits der Diplomatie in der Theorie des Kochens. Bis ins 18. Jahrhundert war die französische Küche geprägt vom »maskierenden« Würzen, einem Erbe des Mittelalters, bei dem Gewürze auch Status demonstrierten und reichlich genutzt wurden. Carême hingegen favorisierte den »goût naturel«, den natürlichen Geschmack. Ihm zufolge sollte durch die Zubereitung der Eigengeschmack des Produkts nicht überdeckt, sondern gehoben werden.

Küchenkluft | In seinem Buch »Le Maître-d'hôtel français« (1822) zeigte Carême, wie die Köche alter Schule aussehen (links) und wie ein moderner Koch (rechts) daherkommen sollte.

Und er brachte Ordnung in das Chaos der Soßen. Aufbauend auf Vorarbeiten des französischen Kochs François Massialot (1660–1733) entwickelte Carême einen Stammbaum der Soßen, der bis heute Gültigkeit hat. Er definierte vier »Mutter-Soßen« (»sauces mères« oder »grandes sauces«): Velouté, Béchamel, Espagnole und Allemande. Von diesen Grundtypen ließen sich alle anderen Varianten logisch ableiten. Was Carl von Linné für die Botanik leistete, erbrachte Carême für die Küche: Er schuf eine Taxonomie. Erst durch diese Standardisierung wurden Rezepte international verständlich und professionell lehrbar. Der Meisterkoch Auguste Escoffier (1846–1935) sollte dieses System Jahrzehnte später verfeinern. Doch das Fundament legte Carême.

Carême sorgte für militärische Küchenzucht

Neben der inhaltlichen Strukturierung trieb Carême auch die Professionalisierung seines Berufsstands voran. Als er sich 1821 in Wien aufhielt und im Dienst des britischen Botschafters Lord Stewart stand, reformierte er die Arbeitskleidung. Die bis dahin üblichen schlaffen Baumwollmützen empfand er als würdelos; sie erinnerten ihn an Schlafmützen. Carême führte die »toque« ein, eine gestärkte, hohe Mütze, die Sauberkeit, Haltung und Hierarchie signalisierte.

Auch die Organisation der Küchenbrigade, die oft fälschlicherweise Escoffier allein zugeschrieben wird, fand ihren Ursprung in Carêmes Logistik. Großbankette wie das Fest von Vertus 1815 in der Champagne, das Zar Alexander I. ausrichten ließ, erforderten präzise Abläufe. Carême nutzte militärisches Vokabular wie »coup de feu« (Ansturm) oder »batterie« (Kochgeschirr) und etablierte klare Zuständigkeiten. Die Küche wandelte sich unter seiner Ägide von einer Werkstatt zu einer straff organisierten Manufaktur.

Das Vermächtnis des Königs der Köche

Seine letzten Jahre verbrachte Carême im Dienst der Bankiersfamilie Rothschild. Der Vertrag sicherte ihm – ungewöhnlich für diese Zeit – explizit Zeit zum Schreiben zu. Das Resultat war sein Opus magnum, »L’art de la cuisine française au dix-neuvième siècle«. In dem fünfbändigen Werk (die letzten beiden Bände wurden posthum veröffentlicht) kodifizierte er Tausende Rezepte mit exakten Mengenangaben und Garzeiten. Es war der Versuch, das flüchtige Handwerk des Kochens für die Ewigkeit festzuhalten.

Der Preis für diese akribische Arbeit war hoch. Carême starb am 12. Januar 1833 im Alter von nur 48 Jahren. Als Todesursache gilt heute eine schleichende Kohlenmonoxidvergiftung, verursacht durch die jahrzehntelange Arbeit an Holzkohleherden in schlecht belüfteten Souterrains. »Die Kohle tötet uns«, hatte Carême einmal notiert. Er hinterließ keine Reichtümer, aber eine methodische Ordnung, die die französische Küche zur weltweiten Referenz machte.

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  • Quellen

Carême, A., L’art de la cuisine française au dix-neuvième siècle, 1833

Rey, M.-P., Le premier des chefs, 2021

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