Freistetters Formelwelt: Wenn Meere rülpsen

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Wer Tauchsport betreibt, muss sich vor der Dekompressionskrankheit schützen: Taucht man aus größerer Wassertiefe zu schnell auf, kann das zu Gelenkschmerzen, Atemproblemen, Hirnschäden und jeder Menge anderer unangenehmer Symptome führen. Die Ursache dafür lässt sich durch eine Formel erklären, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Arbeit mit dem Titel »Experiments on the Quantity of Gases Absorbed by Water, at Different Temperatures, and under Different Pressures« gefunden wurde und in heutiger Schreibweise so aussieht:
Sie drückt aus, wie sich Gase in Flüssigkeiten lösen. Mit ca wird die Konzentration eines Gases in einer Flüssigkeit beschrieben und p ist der Partialdruck des Gases über der Flüssigkeit (unter Gleichgewichtsbedingungen). Konzentration und Druck sind proportional zueinander und hängen über eine Konstante zusammen, die als Henry-Löslichkeitskonstante bezeichnet wird.
Die vom britischen Chemiker William Henry entdeckte Beziehung beschreibt ein idealisiertes Verhalten, reicht aber aus, um viele verschiedene Phänomene zu erklären. Im Fall der Dekompressionskrankheit sieht man anhand der Formel sofort, dass sich mit zunehmendem Druck mehr Stickstoff im Blut lösen kann. Der Stickstoff wird in die diversen Gewebe und Organe des Körpers transportiert, wo sich die Konzentration ebenfalls erhöht. Beim schnellen Auftauchen fällt der Druck ebenso schnell ab, und Blut beziehungsweise Gewebeflüssigkeit sind plötzlich übersättigt. Der Stickstoff bildet Blasen, die das Gewebe verletzen, und je nachdem, wo diese Verletzungen stattfinden, kann es zu unterschiedlichen Symptomen kommen.
Doch das Henry-Gesetz ist auch abseits des Tauchsports relevant. Mit ihm kann man zum Beispiel verdeutlichen, wie viel Kohlendioxid sich im Wasser der Meere lösen kann. Je mehr CO2 in der Atmosphäre ist, desto mehr gelangt auch ins Wasser. Dort bildet sich Kohlensäure, und wenn die Ozeane zu sauer werden, schädigt das unter anderem Korallen. Betroffen sind allerdings noch andere Tiere mit Schalen aus Kalk und somit letztlich die gesamte Nahrungskette. Übrigens können wir mit dem Henry-Gesetz ebenfalls ermitteln, wie viel CO2 zu früheren Zeiten der Erdgeschichte in der Atmosphäre vorhanden war, da sich Variationen im pH-Wert des Wassers aus Sedimentanalysen rekonstruieren lassen.
Ein Teufelskreis
Aus Sicht der Klimakrise ist es zwar einerseits gut, dass die Ozeane einen Teil des Kohlendioxids aus der Atmosphäre aufnehmen. Denn die Weltmeere sind eine große Kohlenstoffsenke. Aber langfristig könnte dadurch alles noch viel schlimmer werden. Die Henry-Konstante gilt nämlich genau genommen nur bei einer festen Temperatur. Oder anders gesagt: Steigt die Temperatur, dann sinkt die Löslichkeit von Gasen in Wasser.
Den Effekt kann man am eigenen Leib erfahren, wenn man ein kohlensäurehaltiges Getränk zu schnell trinkt. Die (meist) kalte Flüssigkeit gelangt in den Magen und wird dort erwärmt. Dadurch kann sie nicht mehr so viel CO2 in Lösung halten, es entweicht als Gas und wir erleben das, was man medizinisch nüchtern als Efflation bezeichnet – und sonst einfach Rülpsen nennt. Was je nach sozialem Umfeld mal mehr oder weniger peinlich ist, kann bei den Meeren allerdings katastrophale Folgen haben.
Die Treibhausgase, die wir in die Atmosphäre pusten, sorgen für eine globale Erwärmung, die natürlich auch die Ozeane betrifft. Je wärmer sie werden, desto weniger Kohlendioxid können sie speichern. Die Aufnahmekapazität wird in Zukunft sinken, wodurch mehr Treibhausgase in der Atmosphäre verbleiben, was die Erwärmung nur weiter beschleunigt. Es ist ein Teufelskreis, der sich nur durchbrechen lässt, wenn wir unsere CO2-Emissionen deutlich reduzieren. Ein Rülpsen der Meere sollten wir dringend vermeiden.
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