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Lobes Digitalfabrik: Im Zweifel gegen die Meinungsfreiheit

Die Grenzen der Meinungsfreiheit? Die bestimmt künftig nicht mehr nur der Staat, sondern auch die Privatwirtschaft. Nur sind deren Algorithmen denkbar ungeeignet.
Twitter- und Facebook-Apps auf einem Smartphonebildschirm

Das Internet ist voller Hasskommentare. Seit dem 1. Oktober 2017 ist in Deutschland das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft. Es verpflichtet Plattformbetreiber, "offensichtlich rechtswidrige" Inhalte binnen 24 Stunden zu entfernen (bei nicht offensichtlichen Inhalten gilt eine Löschfrist von sieben Tagen). Ansonsten drohen Bußgelder bis zu 50 Millionen Euro. Das von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) durchs Parlament gepeitschte Gesetz sah sich schon vor seiner Verabschiedung heftiger Kritik ausgesetzt: Zum einen könnten Netzwerkbetreiber aus Angst vor Strafzahlungen lieber einmal zu oft den Kehrbesen schwingen und mit ihrem großen Löschen eine Zensur ins Werk setzen. Zum anderen bekommen Facebook, Twitter und Co eine Art Richterrolle zugewiesen, in der sie als private Akteure bei der Auslegung der Meinungsfreiheit hoheitliche Aufgaben wahrnehmen.

Beide Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. Vor wenigen Tagen hat Twitter einige Tweets des Satiremagazins "Titanic" gelöscht und offenbar den Account für 48 Stunden gesperrt. Die Redaktion hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die AfD-Politikerin Beatrix von Storch als vermeintliche Gastautorin auftreten zu lassen. Unter dem Kürzel "bvs" postete das Magazin einen Beitrag, der – gewissermaßen auf einer Metaebene – ihre umstrittene Äußerung zur Entscheidung der Kölner Polizei, die Neujahrsgrüße auch in arabischer Sprache zu veröffentlichen, aufs Korn nahm: "Wisst Ihr, was Twitter auf Arabisch heisst, liebe @polizei_nrw_k? Ja? Pfui! Ich weiß es nicht – denn das letzte, was ich haben will, sind besänftigte barbarische, muslimische, gruppenvergewaltigende Männerhorden! (bvs)" Es folgten weitere Einlassungen unter anderem über Darts "als letzte Bastion unseres #germanischen #Brauchtums". Die Redaktion hatte absichtlich Rechtschreibfehler in die Tweets eingebaut – der satirische Gehalt war für den Leser klar erkennbar. Doch im Maschinenraum von Twitter wurde der Unterschied zwischen einer Tatsachenbehauptung und einem satirischen Beitrag nicht erkannt. Wie auch? Die Algorithmen besitzen kein Kontextwissen. Sie "verstehen" Dinge nur wörtlich – und scheitern an Ironie. Dass Justizminister Maas, der seinen SPD-Parteigenossen Thilo Sarrazin in einem Tweet aus dem Jahr 2010 einen Idioten nannte, nun Opfer seines eigenen Gesetzes geworden zu sein scheint, indem dieser Tweet gelöscht wurde, zeigt die Absurdität dieses Vorhabens auf – und ist im Grunde Realsatire.

Jede Meldung der "Titanic" ist faktisch eine Falschnachricht, die wir aber wegen ihres satirischen und aufklärerischen Gehalts für schützenswert erachten. Doch der moralische Furor über Fake News hat dazu geführt, dass alles, was annähernd nicht der objektiven Wahrheit entspricht, im Verdacht der Meinungsmanipulation steht. So haben im vergangenen Jahr norwegische und schwedische Tageszeitungen in vorauseilendem Gehorsam auf den obligaten Aprilscherz verzichtet, aus Angst, zensiert zu werden – und sich am Ende selbst zensiert.

"Dieser Post wurde gelöscht": Intransparenz statt offener Diskussion

Man kann darüber streiten, ob Satire alles darf, wie Kurt Tucholsky einst sagte, und sich alle Freiheiten herausnehmen darf, doch verweist der Fall auf ein grundsätzliches Problem im Netz: die Privatisierung der Meinungs- und Kunstfreiheit. Weil Konzerne wie Facebook oder Twitter nicht tausende Juristen einstellen und jeden Kommentar einer Einzelfallprüfung unterziehen können, setzen sie angesichts der schieren Menge an Beiträgen auf automatisierte Systeme, die Hate Speech oder Fake News filtern sollen. Oder sie delegieren diese Aufgabe an Nutzer, die strafbare Inhalte melden sollen und dabei als unbezahlte Hilfsjuristen missbraucht werden. So hat Twitter am 1. Januar 2018 ein Beschwerdesystem ausgerollt, mittels welchem Nutzer Missbräuche melden können. Allein, wie soll ein juristischer Laie zwischen Straftatbeständen nach Paragraf 185 Strafgesetzbuch (Beleidigung), Paragraf 186 StGB (Üble Nachrede) oder Paragraf 187 StGB (Verleumdung) unterscheiden können? Soll er vorher einen juristischen Kommentar lesen? Das zeigt die Selbstaufgabe des Staates. Ein Staat, der nicht mehr in der Lage ist, Normen zu definieren und durchzusetzen, ist nicht nur schwach, sondern entäußert sich auch ein Stück weit seines Gewaltmonopols.

Stattdessen bekommen Tech-Konzerne wie Facebook oder Twitter immer häufiger die Aufgabe, über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu befinden – was sie zu Schiedsrichtern in eigener Sache macht. Das Problem ist, dass Auslegungsstreitigkeiten wie etwa die Frage, ob eine Hitler-Kostümierung unter Kunstfreiheit fällt, nicht einer offenen Diskussion zugeführt, sondern autoritativ in einem intransparenten Verfahren entschieden werden. Der Algorithmus identifiziert per Mustererkennung ein Hakenkreuz und sagt: Das darf nicht gezeigt werden! Graubereiche gibt es in den binären Entscheidungsstrukturen nicht. Für Algorithmen ist alles alternativlos. Die automatisierten, begründungsfrei vorgetragenen Wertungen ("Dieser Post wurde entfernt") kommen mit einem Absolutheitsanspruch daher, als wäre dies von höchstrichterlicher Stelle entschieden. Dabei müsste der Diskurs hier erst ansetzen.

Im Ergebnis führen die algorithmischen Filtersysteme zu einer Umkehr des Prinzips "in dubio pro libertate" (im Zweifel für die Freiheit). Unter dem Regime des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes gilt: im Zweifel gegen die Freiheit.

Dass die Zensurvorwürfe ausgerechnet von der AfD kommen, welche die Grenzen der Meinungsfreiheit strapaziert und teils auch überschreitet, ist eine unangenehme Begleiterscheinung dieser hysterischen Debatte. Die Vorwürfe einer privaten Meinungspolizei lassen sich angesichts der Zensurpraxis kaum entkräften. Man sollte wissen, dass Algorithmen als Brandbeschleuniger wirken, indem sie durch Hyperpersonalisierung das Diskursklima zusätzlich anheizen – und als Feuerlöscher dieses Flächenbrands denkbar ungeeignet sind.

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