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Grams' Sprechstunde: Jetzt wollen sie auch noch die Kinder impfen!

Covid-19-Impfungen für Kinder und Jugendliche - muss das sein? Ist das zu rechtfertigen? Überwiegt der Nutzen das Risiko? Hier stellen sich viele Fragen für Eltern, auch der Mutter und Ärztin Natalie Grams.
Kind mit Maske

In impfskeptischen Kreisen liest man gerade etwas über Covid-Impfungen für junge Menschen: »Experimentelle Gen-Impfstoffe für Kinder!« Es werde hier geimpft gegen eine Krankheit, die »weniger gefährlich ist als Influenza!«, heißt es, so oder so ähnlich. Manche wollen nun »auswandern, wenn Kinder-Massen-Zwangsimpfungen drohen«, andere möchten gar »Impfzentren brennen sehen«. Puh! Gesunde Skepsis, immer gern. Aber auf dem Boden der Realität sollte man schon noch bleiben.

Deshalb lieber sachlich und ein paar Nummern kleiner. Zunächst: Wer der Covid-Impfung von Kindern und Jugendlichen skeptisch gegenübersteht, hängt nicht unbedingt nur steilen Thesen an. Zu bedenken ist, dass die Gruppe der jungen Menschen tatsächlich ein geringeres Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung trägt – und das muss berücksichtigt werden, wenn man das mögliche Risiko einer Impfung dagegenhält. Kinder erkranken wirklich meist weniger schwer, bleiben teilweise sogar asymptomatisch, und Todesfälle gibt es nur vereinzelt.

Was kann die moderne Medizin leisten? Nutzt die Homöopathie? Was macht einen guten Arzt aus, und welche Rolle spielt der Patient? Die Ärztin und Autorin des Buchs »Was wirklich wirkt« Natalie Grams diskutiert in ihrer Kolumne »Grams' Sprechstunde« Entwicklungen, Probleme und eklatante Missstände ihrer Zunft. Alle Teile lesen Sie hier.

In eine nüchternen Bilanz muss das individuelle Risiko der Covid-Infektion für Kinder und Jugendliche dem Risiko einer Impfung gegen Corona und dem Nutzen gegenübergestellt werden, den der Impfschutz dann bietet.

Dazu ein paar Zahlen: Die diagnostizierten Covid-19-Erkrankungen machen bei Menschen unter 18 Jahren »nur« etwa neun Prozent der Gesamterkrankungen aus – wenig im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Allerdings sorgen auch diese Fälle zunehmend für eine erheblicher Krankheitslast; noch schwer abzuschätzende Folgeprobleme kommen womöglich hinzu. Schon bekannt ist die lebensgefährliche Erkrankung MIS-C (Multi-System Inflammatory Disease in Children, auch PIMS), bei der gleichzeitig in mehreren Organen schwere Entzündungsprozesse einsetzen können: Bei rund 50 Prozent der jungen Betroffenen ist sie mit einem nachgewiesenen Sars-CoV-2-Virus assoziiert. Eine Impfung könnte das Risiko hierfür minimieren, ebenso wie das für von »Long Covid«-Verlaufsformen. Das ist aus meiner Sicht nicht zu vernachlässigen und lässt es fraglich erscheinen, ob eine Ansteckung mit Sars-CoV-2 stattdessen akzeptabel ist.

Und wie sieht es mit dem von einer Impfung ausgehenden Risiko für den Einzelnen aus? Mit der Bewertung haben sich die Zulassungsbehörden auseinandergesetzt. In der EU steht danach nun eine Zulassungserweiterung wohl bevor, zunächst für Kinder ab zwölf Jahren. In den USA hat die Food and Drug Administration (FDA) im Rahmen ihrer Zulassung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs ab zwölf Jahren Dokumente zum Analyseprozess veröffentlicht: Daraus geht hervor, dass sich das Risiko für schwer wiegende Ereignisse nach der Impfung bei 12- bis 15-Jährigen nicht wesentlich von dem eines Placebos unterscheidet (die Werte liegen bei 0,4 beziehungsweise 0,1 Prozent). Das Zulassungsverfahren läuft noch, die Behörden prüfen und bestätigen noch und das Risiko wird in der Nachbeobachtung weiter evaluiert werden – insgesamt zeichnet sich aber ab, dass der Nutzen der Impfung auch in der jungen Altersgruppe die möglichen Risiken überwiegt. Das trifft gerade dann zu, wenn man bedenkt, dass es sich potenziell um gesunde junge Personen handelt, die geimpft werden sollen.

Zur Risikoabschätzung gehört aber eine weitere Perspektive: die epidemiologische. Das Sars-CoV-2 Virus wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit endemisch werden, es wird uns also vermutlich dauerhaft begleiten. Das macht eine mittel- und langfristige Betrachtung unausweichlich. Dann stellt sich zum einen die Frage, ob wir das Virus wirklich in einer so großen Bevölkerungsgruppe wie die der Kinder und Jugendlichen frei zirkulieren lassen wollen. Erhöhen wir damit nicht die Chancen für neue Mutanten, weitere Fähigkeiten an uns auszuprobieren? Es macht einen großen Unterschied, ob wir versuchen, der Bewegungsfreiheit der Virusgemeinschaft durch Flächenimpfung konsequent Grenzen zu setzen, oder ob wir ihr Raum geben, indem wir eine »Durchseuchung« von Kindern und Jugendlichen schlicht abwarten. Mehr Viren mit mehr Möglichkeiten bedeuten mehr Mutationen, und eine von diesen könnte auch schwere und schwerste Verläufe bei den bislang eher wenig betroffenen jungen Menschen verursachen.

Eine zweite Frage ist vor einer Endemie mindestens genauso wichtig. Denn klar ist: Jeder Mensch – ja, wohl wirklich an die 100 Prozent – werden in einer endemischen Situation auf lange Sicht entweder geimpft sein oder eben eine Infektion durchgemacht haben. Denn zwar kann man den Fortschritt des Virus ordentlich bremsen, indem man die Infektionsgefahr für den Einzelnen möglichst minimiert, etwa durch Lockdowns, Shutdowns, AHA-Regeln und ihre Ergänzungen – aber wer will das schon, und wer hält das für immer durch? Für die Kosten-Nutzen-Rechnung bedeutet das, dass das Risiko der (bei Nichtgeimpften eben 100-prozentig sicheren) Covid-19-Infektion direkt gegen die Impfrisiken gestellt werden kann.

Aber wie war das mit der »Herdenimmunität«? Werden wir nicht einen Gemeinschaftsschutz für unseren Nachwuchs aufbauen? Kurz und schmerzhaft: Nein. Der Präsident des Robert Koch-Instituts wies vor Kurzem darauf hin, dass die Immunisierungsrate für einen einigermaßen wirksamen Gemeinschaftsschutz etwa bei 80 Prozent der Bevölkerung liegen müsste. Den Gemeinschaftsschutz werden wir also rechnerisch selbst dann nicht erreichen, wenn alle Erwachsenen vollständig geimpft sind, weil die Gruppe der Kinder und Jugendliche zu groß ist. Also müsste der Nachwuchs »mithelfen«, indem er durch die risikoreiche Infektion immun wird – nee, danke. Und bei allem Optimismus: Es wird ohnehin genug Impfverweigerer geben, die es illusorisch erscheinen lassen, wenigstens unter allen Erwachsenen eine ausreichend hohe Impfquote zu erreichen.

Kinder und Jugendliche nicht zu impfen wäre also eine Art selektives Durchseuchungskonzept – mit allen schon im letzten Jahr vielfach diskutierten und für nicht akzeptabel befundenen Konsequenzen.

Es wird auf absehbare Zeit nicht unbegrenzt Impfstoff für alle zur Verfügung stehen, und wir müssen daher weiterhin Impfgerechtigkeit über Priorisierungen sicherstellen. Das bedeutet: Zunächst sollte man eine Impfung vor allem für Kinder mit hohem individuellem Risiko erwägen. Ich persönlich denke aber, dass über kurz oder lang möglichst viele Kinder und Jugendliche gegen Covid-19 geimpft werden sollten. Für eine Impfpflicht bin ich dagegen nicht – es gibt ja auch ganz ohne Zwang genug gute Gründe, sich impfen zu lassen. Und das meine ich nicht nur als Ärztin, sondern auch als Mutter. Ich würde selbstverständlich auch meine Kinder impfen lassen, und zwar, sobald die Zulassungen und eine Empfehlung der STIKO für ihre Altersgruppe da sind, lieber heute als morgen. Kinder mussten in dieser Pandemie schon genug ertragen, durch den Verzicht auf Sozialleben und Leichtigkeit. Auch das tut der Gesundheit nicht gut.

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