Schlichting!: Der wahre Kern des indischen Seiltricks

Der indische Seiltrick gilt als eines der legendärsten Zauberkunststücke: Der Magier lässt ein vormals schlaffes Seil in die Höhe steigen, und sein junger Assistent erklimmt es. Oben angekommen, verschwindet dieser. Doch der Trick ist voller Ungereimtheiten, überzeugend aufgeführt wurde er wohl nie.
Trotz intensiver Nachforschungen magischer Zirkel im 20. Jahrhundert gibt es keine glaubwürdigen Berichte darüber, dass die Illusion jemals in ihrer klassischen Form oder einer abgewandelten Version gelungen ist. Verzichtet man allerdings auf den kletternden Assistenten und lässt das Seil allein wirken, kann man mit Hilfe der Physik durchaus etwas magisch Erscheinendes heraufbeschwören: ein Band, das sich aus seinem Gefäß erhebt.
In Wirklichkeit stimmt dabei selbstverständlich alles mit den Naturgesetzen überein. Und genau das macht den Trick so spannend: Man kann von vornherein jegliche Täuschung ausschließen. Es ist sogar sinnvoll, eine durchsichtige Schale zu verwenden, um es völlig transparent zu machen.
In unserem Fall ist das Seil ein etwa drei Zentimeter breites, ziemlich langes Kunstfaserband. Es steigt in einem hohen Bogen in einem Gefäß auf und ragt über den Rand hinaus. Dann geht es, ohne ihn zu berühren, zu Boden.
Schaut man sich den Vorgang genauer an, so fällt auf, dass das Band nicht ungeordnet im Gefäß untergebracht wird. Es liegt vielmehr flach in langen Schleifen, so dass stets dieselbe Seite nach oben zeigt. Dafür muss es wegen der begrenzten Größe des Behälters nicht nur an den Rändern in sich selbst zurückgefaltet werden, sondern es wird zugleich schrittweise verschoben und zu einer Art Rosette gelegt. Das nutzt die Grundfläche optimal aus. Über der ersten Schicht folgen dann eine zweite und gegebenenfalls noch weitere, bis das Band in ganzer Länge untergebracht ist.
Auf die Weise entsteht ein lockeres Gebilde, das trotzdem unter Spannung steht: Wegen der Biegungen an den Umkehrpunkten hat es elastische Energie gespeichert. Drückt man es mit der Hand vorsichtig ein wenig zusammen, federt es zurück.
»Da ist ein Aufsteigen. Ein kraftvolles und anmutiges Aufsteigen«Jean-Paul Sartre, französischer Philosoph
Zieht man das freie Ende des elastischen Bands ein Stück weit hoch, so wirkt wegen dessen Steifigkeit über den gerade noch aufliegenden Teil eine Kraft auf die Unterlage. Diese übt ihrerseits (nach dem Prinzip »actio gleich reactio«) eine gleich große Reaktionskraft auf das Band aus, die sich zur Zugkraft addiert.
Ein Gefühl für diese zusätzlich wirkende Kraft kann man sich in einem einfachen Freihandexperiment verschaffen. Dazu legt man das eine Ende eines möglichst steifen Bands auf eine empfindliche Waage und zieht es am freien Ende hoch. Die Waage zeigt eine Kraft an. Sie wirkt bei fester Unterlage als Reaktionskraft auf den hochgezogenen Teil.
Von Spannung emporgespien
Um schließlich das Band aufsteigen zu lassen, muss man den Behälter möglichst hochstellen oder -halten. Dann legt man ein so langes Stück des Bands über dessen Kante, dass die Schwerkraft ausreicht, um das Band insgesamt herunterzuziehen. Jedes Mal, wenn sich das Band an einer Krümmung im Gefäß entfaltet, beschleunigt die Reaktionskraft diesen Vorgang noch weiter. Dadurch steigt das Band schließlich sogar wie eine Fontäne über den Rand der Schale auf. Je höher diese steht, das heißt, je länger der Weg bis zum Boden ist, desto weiter wird sich diese Bandfontäne nach oben erheben.
Die Idee für ein solches Experiment ging von einer Jahre zurückliegenden Zufallsentdeckung aus. Demnach führt eine Kugelkette, wie man sie beispielsweise von Stöpseln von Waschbecken kennt, just zu dem Phänomen. Band und Kette sind im Prinzip ähnlich steif, wenn man versucht, sie lokal zu biegen. Der Elastizität des Bandes entspricht bei der Kette ein begrenzter Biegewinkel, ab dem sich die Kettenelemente in die Quere kommen. Diese Biegebegrenzung hängt nicht von der Lage der Kette ab. Daher ist dort die Präparation viel weniger aufwändig als im vorliegenden Fall mit dem Band.
Hingegen ist es schwierig, das Phänomen mit normalen Seilen hervorzubringen. Denn wegen der schmalen Auflagefläche kippt das Seil beim Stapeln schnell um. Die elastische Kraft würde dann zur Seite wirken und für den Hub verloren gehen. Um das zu verhindern und das Seil seitlich zu stützen, bräuchte man einen sehr engen und hohen Behälter. Die Fontäne wäre dann aber nicht mehr wirklich eindrucksvoll.
Für den Trick mit dem Band eignen sich viele handelsübliche Varianten, die hinreichend biegesteif sind. Dazu zählen beispielsweise Gurt- oder Geschenkbänder. Breitere Exemplare lassen sich leichter rosettenförmig schichten, ohne dass sie umkippen. Sie nehmen aber auch mehr Platz ein. In einer Schale kommt es daher auf einen guten Kompromiss zwischen Breite und Stapelfläche an. Weil ein Band in Aktion sehr schnell aufsteigt, muss es ziemlich lang sein, damit man die Fontäne wenigstens einige Sekunden lang genießen kann. Notfalls muss man mehrere kürzere Bänder zusammenkleben.
Zwar ist ein Band kein Seil und die Bandfontäne daher kein Seiltrick im ursprünglichen Sinn. Aber das Phänomen kommt der ursprünglichen Vorstellung des indischen Seiltricks immerhin näher als alle anderen Realisierungen, die ich dazu gefunden habe.
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