Star-Bugs – die Kleine-Tiere-Kolumne: Licht aus für die Vielfalt

Wo Menschen leben, wird vielerorts die Nacht zum Tag. Und das hat Folgen nicht nur für uns: Jeder hat wohl schon einmal Nachtfalter um Straßenlaternen kreisen sehen oder bekam abends Besuch von einem Käfer, der durchs geöffnete Fenster zur Deckenleuchte flog. Künstliche Lichtquellen stören die Orientierung von dämmerungs- und nachtaktiven Insekten. Fachleute sprechen von Lichtverschmutzung, die Tier – und Mensch – um den gesunden Schlaf bringt, vor allem in Städten. Selbst Tiere, die nachts ruhen, leiden unter künstlicher Beleuchtung, so etwa die Zuckmücken (Chironomidae).
Allein in Deutschland sind mehr als 500 Zuckmückenarten bekannt, weltweit sind es zehnmal so viele. Es sind zarte Wesen mit grazilen Gliedmaßen. Ihre durchsichtigen Flügel schimmern in den Farben des Regenbogens. Der Rücken wirkt gekrümmt, als würden sich die Insekten tief verbeugen. Wenn sie auf einem Grashalm ruhen, strecken sie beide Vorderbeine weit über Körper und Kopf nach vorne und dirigieren – stetig zuckend – ein unsichtbares Orchester. Diesem Verhalten verdankt die Insektenfamilie ihren Namen.
Zuckmücken sind vielgestaltig, zwei Millimeter bis zu anderthalb Zentimeter lang und beige, grün, grau, braun oder schwarz gefärbt. Der transparent gelbliche Körper von Chironomus riparius etwa ist rund sieben Millimeter lang und trägt auf dem Brustteil drei dunkle Längsstreifen. Die Gruppe um Markus Pfenninger und Linda Eberhardt vom Frankfurter Senckenberg-Forschungszentrum für Biodiversität und Klima untersuchte, wie genau nächtliches Kunstlicht diesen Insekten schadet. »Zuckmücken haben mit gerade einmal 30 Tagen eine sehr kurze Generationszeit und wir können sie gut im Labor vermehren«, sagt Eberhardt.
Mückenlarven mit Superpower
Für die Biodiversitätsforschung sind vor allem die Larven der Zuckmücken wichtig. Die Überlebenskünstler tolerieren Trockenheit, schwankende Temperaturen und salziges oder besonders nährstoffreiches Wasser. Einige gelten als Anzeiger schlechter Wasserqualität, zum Beispiel die Larven der Gattung Chironomus. In ihrer Hämolymphe findet sich ein Farbstoff, der dem menschlichen Blutfarbstoff Hämoglobin ähnelt und der die Larven leuchtend rot färbt. Der Farbstoff speichert Sauerstoff, so dass die Zuckmückenlarven auch in sauerstoffarmen Gewässern überleben können.
Spanische Forschende fanden im Kot von Uferschnepfen (Limosa limosa) sogar noch lebende Larven der salztoleranten Art Chironomus salinarius. Die Vögel hatten die Insekten gefressen und diese hatten die Passage des Verdauungstraktes unbeschadet überstanden. Als blinde Passagiere der Uferschnepfen können Zuckmücken so neue Lebensräume erobern.
Man darf Chironomus riparius also getrost als robust bezeichnen: beste Voraussetzungen, um sie im Labor zu untersuchen. Die Frankfurter Biodiversitätsgruppe beschien die Larven der Zuckmücken daher 16 Stunden lang mit 1000 Lux und simulierten so den Tag. Eine Gruppe der Insekten verbrachte die Nacht dann in Dunkelheit, während eine andere Gruppe einer Beleuchtungsstärke von 100 Lux ausgesetzt war.
Zum Vergleich: An einem bedeckten Wintertag dringen rund 3000 Lux durch die Wolken, in der Abenddämmerung lassen sich noch immer 750 Lux messen. 100 Lux entsprechen schummrigem Licht in Fluren und Treppenhäusern.
Zuckmückenlarven als forensische Helfer
Im Jahr 2013 halfen Larven von Chironomus riparius dabei, den Todeszeitpunkt einer jungen Frau zu bestimmen. Der Fall war knifflig. Die Leiche trieb schon längere Zeit im Río Genil. Das Wasser hatte jedoch alle Spuren vernichtet, so dass Rechtsmediziner nicht mehr feststellen konnten, wann die Frau gestorben war. Forensische Entomologen fanden an der Kopfhaut der Leiche Larven der Zuckmücken. Sie hatten sich dort festgesetzt und bereits das vierte Larvenstadium erreicht. Die Fachleute verglichen die Entwicklungszeit der Insekten mit der Wassertemperatur im Fluss und errechneten, dass die Leiche seit 16 bis 17 Tagen im Wasser gelegen haben musste. An Land berücksichtigt die forensische Entomologie in der Regel Fleisch- und Schmeißfliegen, um einen Todeszeitpunkt zu ermitteln. Wasserlebende Zuckmückenlarven kamen bei dem spanischen Fall zum ersten Mal zum Einsatz.
Licht verändert die genetische Aktivität
Nach einigen Wochen untersuchten die Forschenden das Transkriptom der Versuchsmücken. Das Transkriptom umfasst alle RNA-Moleküle eines Organismus und zeigt an, welche Gene zum Zeitpunkt der Messung aktiv sind. Die Larven von Chironomus riparius, die nachts künstlichem Licht ausgesetzt waren, zeigten in 1564 ihrer aktiven Gene Veränderungen; das entspricht mehr als zehn Prozent aller Zuckmückengene.
»Besonders betroffen waren Gene, die den zirkadianen Rhythmus steuern«, ergänzt Linda Eberhardt. Dieser ist bekannt als innere Uhr und reagiert auf Licht. Der zirkadiane Rhythmus aktiviert morgens andere Gene als abends. Einen »Supermotor« nennt die Biologin diese lebenswichtige Regulierung, die auch uns Menschen steuert: Ist unsere innere Uhr gestört – etwa durch nächtliches Kunstlicht oder Schichtdienste –, steigt das Risiko für zum Beispiel für Krebs und Diabetes oder Depressionen und Suchterkrankungen.
Auch die robusten Zuckmückenlarven litten unter den Folgen der nächtlichen Beleuchtung: »Die Tiere zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe veränderte Expressionsmuster in Genen für oxidativen Stress und die Larvenentwicklung«, sagt Eberhardt. Das zeigte sich ebenso in ergänzenden Beobachtungsstudien. Die Larven verpuppten sich früher als jene, die die Nacht im Dunkeln verbrachten. Gleichzeitig blieben sie länger verpuppt, die ausgewachsenen Insekten schlüpften also später als ihre unbeleuchteten Artgenossen.
»Wenn Zuckmücken länger im Puppenstadium verbleiben, geht das auf Kosten ihrer Fitness«, sagt die Biologin. Möglicherweise verbrauchten sie zu viel Energie, ohne gleichzeitig welche aufnehmen zu können. So legten die Weibchen weniger Eier, und aus diesen schlüpften weniger Larven. Lichtverschmutzung kann demnach dramatische Folgen für die Gesamtpopulation haben: »Wir beobachteten zwar nur eine Abnahme der Fruchtbarkeit von zwei Prozent«, erläutert Eberhardt. Doch Modellrechnungen zeigten: Nach 200 Tagen und etlichen Mückengenerationen bliebe noch ein Prozent der vorhergesagten Population übrig.
Zuckmücken sind Teil eines gesunden Ökosystems
Ein paar Zuckmücken mehr oder weniger – was soll's?, könnte man fragen. »Doch so einfach ist das nicht«, sagt die Biodiversitätsforscherin. Zuckmücken stellen einen Großteil der Biomasse in der Natur. Sie sind Nahrungsgrundlage für Vögel, Fische und Fledermäuse ebenso wie für Spinnen, Libellen oder Wespen. Die Folge sei ein Dominoeffekt, sagt die Biologin: »Verschwinden die Zuckmücken, verschwinden auch andere Tiere.«
Außerdem müsse man davon ausgehen, dass Insekten generell unter nächtlicher Beleuchtung leiden. »In den Städten ist die Lichtverschmutzung ein zusätzlicher Stressfaktor«, so Eberhardt. Viele Fachleute sehen in nächtlicher Beleuchtung sogar einen bisher unterschätzten menschengemachten Faktor, der das Insektensterben vorantreibt.
Blick in die Vergangenheit
Zarte Insekten wie Zuckmücken kennt man eingeschlossen in Bernstein, aber man erwartet sie nicht unbedingt als Fossil im Gestein. Und doch nutzten Forschende versteinerte Zuckmückenlarven als Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Deren Kopfkapseln aus Chitin überdauerten, geschützt in Sediment, die Jahrtausende. Das Licht der heutigen Welt erblickten die Mückenfossilien durch Zufall: Im norddeutschen Tagebau Schöningen stießen Archäologen Mitte der 1990er Jahre auf hölzerne Waffen, die Homo heidelbergensis vor 300 000 Jahren am Rand eines Sees Waldelefanten und Wildpferden hinterhergeschleudert hatte. Neben diesen Schöninger Speeren fanden sich auch Zuckmückenlarven, Kieselalgen und Muschelkrebse. Ein Forschungsteam aus Deutschland, Polen und der Schweiz untersuchte die Kopfkapseln der Mückenlarven. Sie wussten: Zuckmücken passen ihren Stoffwechsel und ihre Fortpflanzung an die Wassertemperatur an. Die altsteinzeitlichen Larvenfossilien verrieten dem Forschungsteam so, dass die norddeutschen Sommer damals mit 16 bis 22 Grad Celsius eher kühl waren.
Dabei scheinen Städte zu wichtigen Insektenrefugien zu werden, wie deutsche und schwedische Biologen im Februar 2025 im Fachmagazin »Basic and Applied Ecology« beschrieben: Auf einigen Brachflächen in Städten in Sachsen-Anhalt war die Artenvielfalt sogar größer als in Naturschutzgebieten. Viele Insekten ziehen in die Stadt, weil ihnen Monokulturen und Pestizide auf dem Land ihre Lebensgrundlagen nehmen.
Kunstlicht reduzieren
Natürlich könne man nicht überall auf Laternen und Lampen verzichten, sagt Eberhardt. Schließlich gehe es um die Sicherheit der Bevölkerung, wenn Straßen und Gehwege beleuchtet werden. Eine Lösung können beispielsweise sensorgesteuerte Laternen sein, die auf Bewegung reagieren und nur dann angehen, wenn ein Mensch vorbeiläuft. Bleiben aber noch immer die zahlreichen nachts beleuchteten Gebäude, Plätze und Verkehrsknotenpunkte wie Bahnhöfe, Kirchen oder Burgen, die als besondere Orte angestrahlt werden.
Im Kleinen könnten Privatleute aktiv werden: »Manchmal stehen in Gärten Solarlaternen direkt neben einer blühenden Staudenwiese oder einem Insektenhotel«, sagt die Biologin. Das sei absurd, aber vielen Menschen eben nicht bewusst. »Der Wille, Insekten zu schützen, ist offenbar da. Nun heißt es nur noch: Licht aus.«
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