Star-Bugs – die Kleine-Tiere-Kolumne: Trauern wir bald um den Trauerspinner?
Es ist wahrlich kein Schmetterlingswetter an diesem Montagnachmittag in Niederösterreich im April 2024: Dicke Wolken verhängen die Sonne, es ist ungewöhnlich kühl, bis vor wenigen Minuten nieselte es noch. Dennoch taucht zwischen den nassen Halmen ein schwarzer Falter auf, fliegt kurz auf, bevor er wieder im Wiesengrün verschwindet. Es ist ein Trauerspinner.
Komplett schwarz ist das Männchen von Penthophera morio nur auf den ersten Blick. Beim genauen Hinschauen durchziehen am Hinterleib vier beige-gelbe Streifen den dunklen Pelz. Die Farbe findet sich an den Endgliedern der Beine ebenso wieder wie im flauschigen Saum, der die Flügel umrandet. Die wiederum schimmern türkis bis blau, je nachdem, in welchem Winkel das Licht auf sie fällt. Im hinteren Teil der Flügel fehlen die farbigen Schuppen auf den dünnen Häuten, die wie Pergamentpapier wirken. Stattdessen zeigen sich kleine Fenster, eingerahmt von tiefschwarzen Adern: eine Art Falter gewordene Tiffany-Lampe in Blau-Türkis. Am Kopf entspringen beim Männchen riesige Fühler, die an Blattgerippe erinnern. Doppelt gekämmt heißt diese Form in der Fachsprache. Und sie verrät: Der Trauerspinner gehört zu den Nachtfaltern.
Dass der Trauerspinner im Hellen unterwegs ist, muss kein Widerspruch sein. Mehr als jede Zehnte der rund 3500 Nachtfalterarten in Deutschland fliegt tagsüber. Die Gruppe ist vielfältig und um ein Vielfaches artenreicher als die bekannteren Tagfalter. »Zu diesen zählen wir nur knapp 200 Arten«, sagt Martin Wiemers. Der Schmetterlingsforscher leitet am Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut in Müncheberg die Sektion Ökologie. Kommissarisch betreut er zudem die Schmetterlingssammlung der Forschungsanstalt. Der Biologe erläutert: Es gebe zwar Ausnahmen, aber allgemein könne man sagen, dass Tagfalter keulenförmige Fühler haben. Alle anderen Schmetterlinge tummeln sich in der Gruppe der Nachtfalter.
Mit Chemie auf Partnersuche
Jetzt, im Frühjahr, flattert das Männchen knapp über den Spitzen der Halme umher, taucht immer wieder ein zwischen Gräsern und bunten Blüten. Der Falter ist erst vor wenigen Tagen aus seinem Kokon gekrochen; jetzt sucht er nach paarungsbereiten Weibchen. Dafür folgt er einer Duftspur aus Pheromonen, mit der die Weibchen ihre Partner locken.
Dieser chemische Kniff ist auch zwingend nötig, denn sonst würden sich die Schmetterlinge kaum treffen. Die Weibchen mit ihrem unauffälligen braunen Pelz hocken verborgen im dichten Grün, nur wenige Zentimeter von dem Platz entfernt, an dem sie selbst kurz zuvor geschlüpft sind. Diese Stelle werden sie nie verlassen, denn sie sind weder gut zu Fuß noch können sie fliegen.
Ihr Körper wirkt für Schmetterlinge ausgesprochen plump; im Vergleich zum riesigen Hinterleib scheint alles am Trauerspinnerweibchen winzig, der Kopf, die Fühler und die Beine. Seine blau schimmernden Flügel sind zurückgebildet, bisweilen zu kaum erkennbaren Stummeln. Brachypterie nennen Insektenforscher dieses Phänomen der Kurzflügeligkeit. Es tritt bei Schmetterlingen vergleichsweise selten auf. Bekannt sind flugunfähige Weibchen zum Beispiel von den Spannern (Geometridae) und den Trägspinnern (Lymantriinae). Zu letzterer Gruppe gehört auch der Trauerspinner.
Warum fehlen die Flügel?
Weshalb einige Schmetterlinge im Lauf der Evolution ihre Flügel verloren, ist unklar. Theorien gibt es aber einige. Bei Falterarten, die auf isolierten Inseln vorkommen, fehlen vermutlich Fressfeinde. Für diese Insekten gibt es einfach keinen Grund zu fliegen. Genauso ist es bei einigen Vogelarten auf Neuseeland, etwa den eigentümlichen Takahē.
In der Heimat der Trauerspinner lauern hingegen zahlreiche Gefahren, sowohl in der Luft als auch in der Wiese. Darum verwundert Entomologen der Verlust der Flügel. Zumal dieses Handikap die Mobilität der Falter massiv einschränkt, sei es bei der Partnersuche oder um von der einen zur anderen Wiese zu gelangen.
Es muss also einen wirklich guten Grund geben, wieso die Weibchen flugunfähig sind. Der Münchner Schmetterlingsforscher Wolfgang Dierl und der Evolutionsbiologe Josef Reichholf mutmaßten in ihrem 1977 veröffentlichten Aufsatz »Die Flügelreduktion bei Schmetterlingen als Anpassungsstrategie«, dass »die Flügelreduktion hier als Möglichkeit zur Maximierung der produzierbaren Eizahl interpretiert werden kann«.
Fliegen dank langer Haare
Die Weibchen des Schlehen-Bürstenspinners (Orgyia antiqua) besitzen wie die des Trauerspinners nur Flügelstummel und sind flugunfähig. Dafür aber haben die Raupen das Fliegen »gelernt«. Bereits als frisch geschlüpfte Falterlarve sind sie über und über mit feinen Härchen besetzt. Wie die Samen des Löwenzahns lassen sich die Raupen vom Wind von einem Ort zum nächsten tragen. Verdriften nennen Fachleute dieses passive Reisen.
Möglicherweise nutzen auch die Raupen des Trauerspinners den Wind als Transportmittel. Schließlich besitzen die Larven ebenfalls einen beachtlichen Pelz. Allerdings halten sie sich eher zwischen Gräsern und Kräutern auf und nicht auf Bäumen und Sträuchern wie die Raupen des Schlehen-Bürstenspinners. Es ist deshalb fraglich, ob die Kraft des Windes so nah am Boden und ausgebremst durch Vegetation ausreicht, um die behaarten Raupen des Tauerspinners mit sich zu führen.
Wenn Falterweibchen viele Eier in sich tragen, ist ihr Hinterleib häufig angeschwollen. Bei einigen Arten – zum Beispiel dem Großen Eichenkarmin – haben die Weibchen zwar voll ausgebildete Flügel, bewegen sich vor der Eiablage aber nur noch krabbelnd fort. Mit ihrem prall gefüllten Hinterleib sind sie schlichtweg zu schwer, um zu fliegen. Nach der Eiablage jedoch flattern sie wieder ihrer Wege.
Schrumpfkur als Evolution
Beim Trauerspinner überwog wohl im Lauf der Entwicklung der Vorteil einer großen Anzahl von Eiern, der Hinterleib wuchs und gleichzeitig schrumpften die Flügel. Während andere Falterarten 10 oder 20 Eier einzeln an Blätter und Ästchen kleben, webt das Trauerspinnerweibchen einen riesigen Kokon an einen Grasstängel. Zwischen dem weißen Gespinst schimmern Dutzende schwarze Eier. Zwei bis drei Wochen später schlüpfen schwarz-weiß gestreifte Raupen. Vor Vogelschnäbeln und den Mäulern der Insektenfresser schützen sich die Falterlarven mit grauen Härchen, die am gesamten Körper aus orange-gelben Warzen sprießen.
Dieselbe Strategie greift bei den ausgewachsenen Weibchen. Auch das macht Flügel überflüssig, resümieren Dierl und Reichholf: »Ein dichter Pelz schlechtschmeckender […] Haare schützt die Imagines weitgehend vor Freßfeinden, so daß sie sich im Hinblick auf den Feinddruck die ›Trägheit leisten können‹.«
Insekten in der Sackgasse
In einer vom Menschen geprägten Umwelt führt diese »Trägheit« allerdings in eine Sackgasse. In Deutschland gilt der Trauerspinner bereits seit mehr als 60 Jahren als ausgestorben, in Österreich sowie einigen Balkanstaaten gibt es noch wenige Vorkommen. Voralpine Halbtrockenrasen, artenreiche Magerwiesen und Karstgebiete weichen einer intensiven Landwirtschaft – und mit ihnen verschwinden die Schmetterlinge, die auf solche Lebensräume angewiesen sind. Wie der Trauerspinner. Weniger, weil er ein Nahrungsspezialist ist. »Ganz im Gegenteil, die Raupen fressen alle möglichen Gräser«, sagt der Biologe Martin Wiemers. »Aber die Falter brauchten freie Flächen – und Zeit.«
Und diese bekommen die Insekten immer seltener: Zwischen April und Juni legen die Weibchen ihre Eier an Gräsern und krautigen Pflanzen ab. Wird die Wiese in dieser Zeit gemäht, ist der Nachwuchs für das Jahr verloren. Auch die Falterweibchen sitzen in der Falle, weil sie nicht fliehen können. »Extensiv genutzte Wiesen sind in unserer Kulturlandschaft selten«, sagt Wiemers. Das werde dem Falter zum Verhängnis.
Auf der besuchten Wiese in Niederösterreich bleiben Gräser und Kräuter noch bis in den Spätsommer stehen. Dementsprechend gut stehen die Chancen des Trauerspinnermännchens, seine Gene in diesem Jahr weiterzugeben. Es folgt bereits der Duftspur eines Weibchens. In wenigen Wochen werden die ausgewachsenen Falter sterben, während die Raupen sich bis zum Herbst einige Male häuten. Gut versteckt zwischen abgestorbenen Grashalmen, Samenkapseln und dem Laub verwelkter Kräuter überwintern sie. Im Frühjahr, wenn die Sonne wieder an Kraft gewinnt, verpuppen sich die Falterlarven. Irgendwann im April oder Mai krabbelt dann ein neuer, geheimnisvoller schwarzer Falter aus seinem Kokon.
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