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Sex matters: Diskretion, bitte!

Was dürfen wir Freunden und Familie über unser Sexualleben erzählen – und wann ist Zurückhaltung angebracht? Der Sexualtherapeut Carsten Müller über die Ausnahme von der Regel, dass Kommunikation über Sex immer gut ist. Eine Kolumne
Füße eines Paares unter einer Bettdecke
Wann ist das, was einvernehmlich im Bett passiert, keine Privatsache mehr? Für manche Paare ist das eine Streitfrage.

»Meine Frau hat ihrer Mutter erzählt, dass ich gerade Erektionsprobleme habe. Abgesehen davon, dass mich das sowieso total belastet: Es ist mir peinlich, dass meine Schwiegermutter das jetzt weiß. Ich fühle mich bloßgestellt und habe ständig das Gefühl, dass die beiden über mich tuscheln. Meine Frau sagt, dass sie über alles mit ihrer Mutter spricht. Ich finde es daneben, dass sie über unsere intimsten Probleme redet.« (Sergej*, 42)

Warum ist unsere Sexualität eigentlich privater als die Kindererziehung oder der letzte Urlaub? Das ist eine ganz grundsätzliche Frage, die jedes Paar beschäftigen sollte. Doch in meiner Praxis erlebe ich das Gegenteil. Paare sprechen häufig nicht ab, wie privat das Sexualleben sein soll. Trotzdem kommt dieses Thema in meiner Praxis immer wieder auf – und sorgt regelmäßig für einen großen Knall. Wenn sich herausstellt, dass einer von beiden schon mit anderen über intime sexuelle Themen gesprochen hat, dann ist das Sprengstoff für die Beziehung.

Wie bei Sergej und seiner Frau. Sie kamen zu mir, weil er Erektionsprobleme hatte. Es stellte sich heraus, dass seine Frau mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Das war Sergej unangenehm. Er war wütend auf sie. Ihre Reaktion: »Ach komm, stell dich doch nicht so an!«

Warum ist das überhaupt ein Problem? Warum sollen andere nicht wissen, dass ich Erektionsprobleme habe, Analsex nicht mag oder selten zum Orgasmus komme? Ganz einfach: weil es den Betroffenen etwas ausmacht, wenn Außenstehende davon erfahren. Sie fühlen sich bloßgestellt. Sie haben Angst, für prüde gehalten zu werden. Sie haben das Gefühl, vor Freunden oder der Familie buchstäblich nackt dazustehen, oder sie denken, dass die anderen die ganze Zeit über sie tratschen. Das ist nicht schön.

Jeder Mensch darf seine eigenen Vorstellungen von Intimsphäre haben

In den Sitzungen bei mir erzählt der eine, wie es ihm geht. Der andere reagiert. Und zwar ganz unterschiedlich. Manche sagen sofort: Tut mir leid, so habe ich das noch nie gesehen. Andere verhalten sich wie Sergejs Frau und reagieren mit Abwehr. Zum Beispiel: Was hast du für ein Problem? Es ist normal, über Sex zu reden. Oder: Mit deinen Kumpels machst du das doch auch.

Solche Reaktionen helfen nicht weiter. Denn sie sprechen dem Partner oder der Partnerin ab, dass ihr Unbehagen berechtigt ist. Jeder Mensch darf seine eigenen Vorstellungen von Intimsphäre haben. Jeder hat sein individuelles Maß für Diskretion und Privatsphäre. Das ist so und das darf auch so sein. Wenn ihm das jemand abspricht, ist das übergriffig. Wie viel jemand über sein Sexualleben ausplaudern will, ist seine Entscheidung.

Manche meiner Klienten sagen: Aber ich muss mit anderen reden, ich brauche das einfach. Mein Partner spricht ja nicht mit mir darüber, und überhaupt, das ist ein Ventil für mich. Sie rechtfertigen ihr Verhalten mit allen möglichen Gründen. Sergejs Frau zum Beispiel meinte, ihre Mutter sei für sie wie eine beste Freundin. Das mag sein – aber für ihren Mann ist sie weder beste Freundin noch Mutter noch die Person, mit der er über seine Erektionsprobleme sprechen möchte.

Was also tun, wenn die Vorstellungen von Privat- und Intimsphäre in einer Partnerschaft so unterschiedlich sind? Die Antwort: reden. Und zwar erst einmal miteinander. Ich fange in der Paarberatung mit den No-Gos an. Was darf auf keinen Fall an Dritte weitergegeben werden? In vielen Dingen sind sich beide schnell einig. Bei ungewöhnlichen sexuellen Fantasien zum Beispiel. Auch Schwächen oder Probleme sind heikel: wenn man selbst noch nicht weiß, wie man mit einem Problem umgehen soll, geschweige denn, ob man jemals eine Lösung finden wird.

Gleichzeitig ist es auch verständlich, wenn sich jemand mit anderen über Probleme in der Beziehung austauschen will. Faustregel: Es sollte eine bewusste Entscheidung sein, mit genau dieser Freundin oder diesem Freund zu sprechen, unter vier Augen. Wählen Sie die Person, mit der Sie sprechen wollen, sorgfältig aus – keine Tratschtante, keinen Tratschonkel. Es sollte klar sein, dass das Gespräch vertraulich ist.

Erzählen Sie aus der Ich-Perspektive und bleiben Sie auf einer grundsätzlichen Ebene. Es ist nicht nötig, intime Details preiszugeben. Ein Beispiel: »Ich genieße den Sex mit meinem Mann« ist in Ordnung. »Der Sex ist gut, weil mein Mann einen großen Penis hat« ist indiskret und unfair gegenüber dem Partner, sofern er nicht zugestimmt hat.

Sergej fragte mich in der Beratung, ob er mit seiner Frau eine Art Regelheft aufstellen könne, was mit wem wie besprochen werden dürfe. Aber das ergibt wenig Sinn: Man kann nicht im Vorhinein alle Eventualitäten klären. Es gibt einen Weg, der besser funktioniert. Der erste Schritt: Wenn es Probleme gibt, spricht man zuerst miteinander darüber. Erst im zweiten Schritt verständigt man sich über grundsätzliche Grenzen und eine No-Go-Liste. Schritt drei ist, sich bewusst zu machen, dass es keine perfekte Lösung gibt. Und das macht nichts, denn Schritt vier ist, im Zweifelsfall immer wieder miteinander ins Gespräch zu gehen über das, was gerade anliegt.

Das braucht allerdings Zeit. Bei Sergej und seiner Frau erforderte es mehrere Sitzungen und einige Runden Selbstreflexion. Sie kamen immer wieder in Situationen, in denen es nicht optimal lief. Aber sie waren jetzt in der Lage, darüber zu reden. Und nach einem halben Jahr war etwas Neues entstanden: ein Gefühl dafür, was in Sachen Intimsphäre für beide in Ordnung war. Und bei Sergej wuchs das Vertrauen in seine Frau. Weil sie verstanden hatte, wo er empfindlich war – und weil sie ihm vermitteln konnte: Es ist mir wichtig, deine Grenzen zu respektieren.

Auf eine Ausnahme muss ich aber hinweisen: Das alles gilt nicht für Menschen, die Grenzverletzungen oder übergriffige Situationen erlebt haben oder die beim Sex ein mulmiges Gefühl hatten oder eine sexuelle Erfahrung nicht einordnen konnten. In all diesen Fällen ist es wichtig, mit anderen Menschen darüber sprechen. Denn dann hat es Vorrang, Rat und Hilfe zu suchen und die eigenen Grenzen zu schützen.

* Die Namen der Betroffenen sind geändert.

Und nun sind Sie dran: Was soll privat bleiben?

Erstellen Sie eine persönliche No-Go-Liste. Schreiben Sie auf, über welche Bereiche Ihrer persönlichen Sexualität Ihr Partner oder Ihre Partnerin nicht ohne Ihre explizite Erlaubnis mit anderen Menschen sprechen sollte. Tauschen Sie die Listen miteinander: In welchen Punkten stimmen Sie überein, in welchen nicht? Respektieren Sie die Intimsphäre des anderen, auch wenn Sie die Grenzen anders setzen würden.

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