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Lobes Digitalfabrik: Ist Covid-19 eine »Krankheit der Autokratie«?

Das Coronavirus stellt die Systemfrage: Kann eine Demokratie oder ein autoritäres Regime besser mit einer Epidemie umgehen?
Kein Zutritt

Die Welt ist im Ausnahmezustand. Angesichts der globalen Corona-Epidemie werden Flüge gestrichen, Fabriken dichtgemacht, Dörfer abgeriegelt, Schulen und Grenzen geschlossen, Ausgangssperren verhängt. Einst florierende Metropolen wie Mailand oder Madrid sind binnen weniger Tage zu Geisterstädten mutiert. Vom »Ende der Globalisierung« ist bereits die Rede. Während US-Präsident Donald Trump in dem »ausländischen« Virus die ideologische Bestätigung für seinen Nationalismus sieht, wittern linke Denker in der Epidemie eine Kapitalismuskrise und die Chance für einen neuen Kommunismus.

Das Coronavirus stellt die Systemfrage: Kann eine Demokratie oder Autokratie besser mit einer Epidemie umgehen? Etwas ketzerisch gefragt: Ist es vielleicht sogar gut, dass das Virus in China und nicht in den USA ausgebrochen ist, weil eine Autokratie viel effizienter auf die Krise reagieren kann?

Der »New York Times«-Kolumnist Nicholas Kristof schrieb, dass das autoritäre System die Krise befeuert habe, weil es Ärzten und Politikern einen Maulkorb erteilt habe und durch die Beschädigung von Institutionen den Informationsaustausch behinderte. Die Welt bezahle nun den Preis für Chinas Diktatur. Der Politikprofessor Minxin Pei ging sogar noch einen Schritt weiter und nannte das Coronavirus eine »Krankheit der chinesischen Autokratie«.

Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die sagen, dass nur ein autoritäres Regime in der Lage sei, eine ganze Region kurzerhand zu einem Freiluftgefängnis zu machen und im Eiltempo Krankenstationen aus dem Boden zu stampfen. Die US-Zeitschrift »The Atlantic« nannte die Maßnahme ein »radikales Experiment in autoritärer Medizin«.

Im Kampf gegen die Epidemie werden zentrale Freiheiten eingeschränkt

Im Kampf gegen die Epidemie fährt China das gesamte Arsenal der Überwachung auf: Handydaten werden ausgewertet, Bürger farblich codiert (nur wer einen grünen QR-Code auf seinem Smartphone vorzeigen kann, darf Checkpoints passieren), in der Provinz kreisen Drohnen, die mit Hilfe einer KI-gestützten Kamera erkennen, ob jeder in der Bevölkerung Mundschutz trägt. Laut einer WHO-Studie waren die Eindämmungsmaßnahmen in China effektiv. Ob sie allerdings auch in Europa funktionieren würden, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Die Auswertung von Handydaten, die in Deutschland bereits diskutiert wurde, ist datenschutzrechtlich problematisch. Andererseits agiert auch ein demokratisches System im Krisenmodus autoritär, wenn es Ausgangs- oder Informationssperren verhängt. Österreich etwa hat die Versammlungsfreiheit aufgehoben, eines der wichtigsten Grundrechte, zahlreiche Länder wie Spanien und Italien haben den Notstand verhängt. Und in Deutschland wird diskutiert, ob die Notstandsgesetze angewandt werden.

Das Infektionsschutzgesetz räumt dem Staat schon jetzt weit reichende Befugnisse zur Seuchenbekämpfung ein. So können beispielsweise die Grundrechte der Versammlungsfreiheit und Unverletzlichkeit der Wohnung zeitweise eingeschränkt oder temporäre Beschäftigungsverbote verhängt werden. § 30 IfSG ermächtigt den Staat, an Lungenpest oder hämorrhagischem Fieber erkrankte Personen, die sich der Aufforderung einer Behandlung widersetzen, »zwangsweise durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses abzusondern«.

Der französische Philosoph Michel Foucault argumentiert in seinem Klassiker »Überwachen und Strafen« (1975), dass eine Seuche die perfekte politische Herrschaft ermögliche, weil sich der Staat der Körper bemächtigen könne. »Die verpestete Stadt, die von Hierarchie und Überwachung, von Blick und Schrift ganz durchdrungen ist, die Stadt, die im allgemeinen Funktionieren einer besonderen Macht über alle individuellen Körper erstarrt – diese Stadt ist die Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft.« Foucault schreibt von einem »politischen Traum von der Pest«, weil der Pest als »Unordnung« die Ordnung der Medizin und Disziplinarmaßnahmen entgegengestellt werden könnten. Wenn also heute Flughafenmitarbeiter die Temperatur von Einreisenden messen, die sich sozusagen mit einer »normalen« Körpertemperatur ausweisen müssen, dann ist das nicht der Kontrollverlust der Staatsgewalt, sondern die Ausübung einer perfekt funktionierenden Biomacht.

Diese autoritär anmutenden Screenings gibt es ja nicht nur in China, sondern auch in den USA und Europa. Weshalb man die Antithese formulieren könnte, dass Epidemien nicht durch autoritäre Systeme verstärkt werden, aber doch autoritäre Praktiken forcieren. Wäre man zynisch, könnte man sagen, China habe nicht nur das Virus, sondern auch sein autoritäres Politikmodell in die Welt exportiert.

Politikwissenschaftler haben immer wieder die Performanzkriterien politischer Systeme in unterschiedlichen Politikfeldern miteinander verglichen – und sind wiederholt zu dem Ergebnis gekommen, dass autoritäre Systeme Demokratien in bestimmten Bereichen, etwa der Herstellung öffentlicher Sicherheit oder Stimulierung von Wachstum, überlegen sind.

Bessere Information schlägt bessere Überwachung

Doch so einfach ist die Gleichung nicht. Die Wissenschaftler Antoine Marsaudon und Josselin Thuilliez haben in einer Studie am Beispiel Kenias herausgefunden, dass eine Demokratie im Gegensatz zu einer Autokratie bei der Bekämpfung von HIV tendenziell besser abschneidet. Der Grund: In einer Demokratie können die Bürger dank freier Medien besser informiert und aufgeklärt und für Verhütungsmittel sensibilisiert werden. Das heißt nicht, dass Demokratien zu einer Reduktion der HIV-Infektionen führen. Aber eine Person hat in einer Demokratie ein geringeres Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren.

Chinesische Kommunikationswissenschaftler haben im Kontext der SARS-Epidemie darauf hingewiesen, dass autoritäre Systeme asymmetrische Informationssysteme schaffen, die es Bürokraten ermöglichen, unbemerkt Lügen zu verbreiten oder die Wahrheit zu unterdrücken. Der chinesische Arzt, der frühzeitig vor dem Ausbruch des Virus warnte und diesem schließlich erlag, wurde nicht erhört. Die populäre Messenger-App WeChat registrierte Wochen, bevor die Behörden den ersten offiziellen Fall meldeten, einen Anstieg von Suchbegriffen wie »SARS«, »Coronavirus« und »Atemnot«. Allein das potenzielle Frühwarnsystem wurde von den Behörden ignoriert. Es krankte, wie auch schon bei SARS, an einer effektiven Krisenkommunikation. Ein Patentrezept gibt es bei der Seuchenbekämpfung freilich nicht. Doch es scheint, als wäre der Werkzeugkasten der Aufklärung – Transparenz, Vernunft und wissenschaftliche Evidenz – noch immer die beste Medizin gegen Epidemien.

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