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Warkus' Welt: Ist das Leben mehr als die Summe aller Erlebnisse?

Stellen Sie sich vor, eine »Erlebnismaschine« könnte Sie jede Erfahrung machen lassen, die Sie sich wünschen. Würden Sie einsteigen?
Besiedlung eines fremden Planetens

Es ist fast ein lustiges Bild, wie ich da in meiner Badehose auf dem Rand eines Beckens mit körperwarmem Salzwasser sitze und durch einen Katalog mit Gestaltungsmöglichkeiten für mein Leben blättere. Aber es dauert nicht lange, bis ich mich entschieden habe: Ich möchte in den kommenden drei Jahren zum Mars fliegen, dort die Ruinen einer untergegangenen Zivilisation erforschen und als gefeierter Astronaut und Starwissenschaftler zurückkehren – überschüttet mit Ehrungen und zu Gast auf einer endlosen Reihe von Partys und Empfängen, wo die bedeutendsten und interessantesten Menschen der Welt hören wollen, was ich zu sagen habe. Das könnte mir gefallen! Ich bestätige meine Auswahl, ein Mitarbeiter stülpt mir die Elektroden über, ich gleite ins Wasser, und der Deckel schließt sich. Er wird sich erst in drei Jahren wieder öffnen. Mein Abenteuer als Weltraumarchäologe beginnt.

Die »Erlebnismaschine«, die einem Menschen beliebige, aber völlig authentisch erscheinende Erfahrungen verschaffen kann, ist ein Gedankenexperiment des amerikanischen Philosophen Robert Nozick (1938–2002) aus dem Jahr 1974. Wohlgemerkt ging es Nozick dabei nicht um die Frage, ob Menschen ihr ganzes Leben an einer solchen Maschine hängend verbringen wollen oder ob wir es vielleicht alle längst tun und es bloß nicht merken. Stattdessen fragte er: Würden wir die frei wählbaren, sich völlig echt anfühlenden Erlebnisse aus der Maschine wirklich »echten« Erlebnissen vorziehen?

Leben ist mehr als bloß Erlebnisse haben

Nozick meint: Nein! Es gibt einen Unterschied dazwischen, etwas zu tun, und nur zu erleben, dass man es tut. Diesen Unterschied können wir erkennen, obwohl wir ihn, während wir an die Maschine angeschlossen sind, nicht bemerken. Anders gesagt: Leben ist mehr, als bloß Erlebnisse haben. Nozick argumentiert: Jemand sein, der bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten und Charakterzüge hat, ist mehr, als nur die Erfahrungen einer solchen Person vorgespiegelt zu bekommen. Für mein Beispiel hieße das: Es wäre viel attraktiver für mich, wirklich jemand zu sein, dessen wissenschaftliche Entdeckungen ihn zu einem interessanten Partygast machen, als nur in einer Maschine zu liegen, die es mir vorspielt. Natürlich ist es viel schwieriger für mich, dieses Ziel von selbst zu erreichen. Ich glaube zwar, ich bin nach dem zweiten Glas Sekt ganz unterhaltsam, aber mein sehr begrenzter wissenschaftlicher Ruhm hat noch nie dazu geführt, dass ich auf Staatsempfängen und Preisverleihungen herumgereicht wurde.

Auf die eigene Vorstellungskraft begrenzt

Zudem sind die Erlebnisse, die mir die Maschine bieten kann, auf das beschränkt, was sich Menschen ausdenken können. Zugegeben, Menschen können sich sehr viel ausdenken. Dass es ein berührendes und erschütterndes Erlebnis zugleich ist, die Erde vom Mond aus als kleine blaue Kugel am Horizont aufgehen zu sehen, konnte man wahrscheinlich schon erahnen, bevor die Mannschaft von Apollo 8 im Jahr 1968 tatsächlich zum ersten Mal Zeuge dieses Schauspiels wurde. Aber hätte jemand im Jahr 1967 wirklich eine Erlebnismaschine so programmieren können, dass sie dieses – damals noch rein hypothetische – Erlebnis genauso berührend und erschütternd vermittelt hätte wie das spätere »Original«?

Ethische Theorien, denen zufolge sich die Bewertung von Handlungen oder Handlungsregeln danach richten sollte, ob sie angenehme Erlebnisse verursachen, bezeichnet man als hedonistisch. Einer der Schlüsse, die Robert Nozick aus seinem Gedankenexperiment mit der Erlebnismaschine zieht, ist, dass solche Theorien falsch sind, weil es im Leben noch mehr gibt, als bloß angenehme Erlebnisse zu haben. Für ihn widerlege ich den Hedonismus, wenn ich meine, lieber mein nicht immer rosiges Leben als mittelguter Philosoph in einer Jenaer Plattenbauwohnung fortsetzen zu wollen, als perfekt vorgetäuscht zu bekommen, ich sei ein gefeierter Astro-Archäologe.

Ich weiß nicht, wie Sie persönlich es halten. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken: Würden Sie in den Tank steigen? Und was müsste passieren, damit Sie Ihre Meinung dazu ändern?

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