Käfer mit Kunstfertigkeit: Der Rebenstecher und seine Blattzigarren

Der Winter 1916/17 dauerte außergewöhnlich lang. Erst Anfang Mai setzte der Frühling ein, dann aber so plötzlich, dass die Mandel-, Apfel-, Kirsch-, Birn- und Pflaumenbäume gleichzeitig blühten. In den Weinbergen von Klingenmünster begannen von einem Tag auf den anderen die Blüten an den Reben zu schwellen. Und mit ihnen kamen die Käfer. Schlagartig und in Scharen. Nur acht Tage später waren die Weinstöcke in dem Dorf an der Weinstraße südlich von Landau übersät von kleinen Rebenstechern (Byctiscus betulae). So beschreibt es Fritz Stellwaag, der damals die Zoologische Station der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt in Neustadt an der Weinstraße leitete, in seinem Lehr- und Handbuch »Die Weinbauinsekten der Kulturländer«. Fünf bis sechs Dutzend Kinder mussten die Käfer in den Weinbergen einsammeln. In jeweils zwei Stunden an sechs Tagen trugen sie mehr als 57 000 Tiere zusammen.
Eine derartige Invasion der Rüsselkäfer bedeutete erhebliche Einbußen für die Weinbauern. »Wenn viele Käfer an den frisch austreibenden Blättern fressen, bleibt davon nicht viel übrig«, sagt Annette Reineke. Die Agrarwissenschaftlerin leitet an der Hochschule in Geisenheim das Institut für Phytomedizin. »Das beeinträchtigt die Entwicklung der Rebe im Verlauf des Jahres.«
Dabei ist der Rebenstecher ein ausgesprochen hübsches Tier. Der kaum einen halben Zentimeter große Käfer schimmert metallisch in Grün und Blau; manchmal changiert die Farbe seines Panzers ins Goldene. In manchen Regionen haben die Flügeldecken eine andere Farbe als der Körper und die Beine. Dann ist er leicht mit dem nahe verwandten Pappelblattroller (Byctiscus populi) zu verwechseln (siehe »Wie lassen sich Pappelblattroller von Rebenstechern unterscheiden?«).
Spezielle Blattfraßtechniken
Sowohl Männchen als auch Weibchen des Rebenstechers treten in allen Schattierungen auf. Die Männchen sind allerdings eindeutig an den beiden spitzen Dornen zu erkennen, die an ihren Schultern, also an den Vorderseiten ihres Brustsegments (Prothorax), nach vorn ragen.
Wie lassen sich Pappelblattroller von Rebenstechern unterscheiden?
Pappelblattroller und Rebenstecher sind die einzigen europäischen Arten der Gattung Byctiscus. Der Pappelblattroller ist normalerweise etwas kleiner. Am deutlichsten unterscheidet sich die Stirn der beiden Tiere: Bei Byctiscus betulae ist die Partie zwischen den Augen nur leicht vertieft. Sie ist übersät von einer so genannten Punktur aus kleinen Kuhlen im Chitinpanzer, die beim Rebenstecher länglich sind. Byctiscus populi hingegen hat zwischen den Augen eine Rinne. Die Kuhlen sind runder als beim Rebenstecher. Weiteres Merkmal: Die Unterseite des Pappelstechers ist stets dunkler als die Oberseite, wenngleich auch er in vielen Schattierungen vorkommt. Und: Byctiscus populi ist viel stärker auf Pappeln, vor allem auf Espen spezialisiert.
Wenn die Käfer Mitte April, Anfang Mai aus der Winterruhe erwachen, knabbern sie an jungen Weintrieben. »Das tun sie, um fit zu werden«, sagt Agrarwissenschaftlerin Reineke. Dieser so genannte Reifungsfraß sorgt dafür, dass sich bei den Weibchen die Eier entwickeln. Es ist leicht zu erkennen, wenn die Käfer aktiv waren: Oft fressen sie nur die obersten Schichten der Weinblätter ab und lassen die untere Epidermis als durchsichtiges Häutchen stehen. Fachleute nennen das Fensterfraß.
Sind die Geschlechtsorgane voll ausgebildet, paaren sich die Rebenstecher. Die Männchen sterben, wenn sie ihre Samenvorräte verbraucht haben. Die Weibchen bauen ihrem Nachwuchs noch einen Unterschlupf aus welken Blättern. Für die sorgen sie selbst, indem sie ein Loch in den Blattstiel fressen und die Versorgung mit Pflanzensaft unterbrechen. Hängt das Blatt schlaff herunter, beginnt das Weibchen, es einzurollen – erst von der einen, dann von der anderen Seite. Je nachdem wie alt und hart das Blatt ist oder wenn eine dickere Blattader noch zu widerspenstig ist, muss es mehrmals die Seite wechseln. Widerspenstige Blattteile und die fertigen Wickel verleimt das Tier mit einem braunen, klebrigen Sekret aus einer Drüse im Hinterleib. Schließlich ist eine lockere Rolle fertig, die entfernt an eine Zigarre erinnert. Deshalb heißt der Käfer im Deutschen auch Zigarrenwickler, im Französischen »cigarier«.
»So ein kleines Käferweibchen vollzieht einen wirklich kunstvollen Prozess«, sagt Reineke anerkennend. Und der kann bis zu fünf Stunden dauern. Die Weibchen unterbrechen ihre Arbeit immer wieder, manchmal fliegen sie eine Weile weg. Oder sie bohren weitere Blätter an und kehren dann zurück. Je nach Größe des Laubs verwenden die Käfer mehrere Blätter für ihre Zigarren.
Ernteeinbußen für die Winzer
Jedes Weibchen stellt 20 bis 30 Wickel her. Auch das könne den Weinreben schaden, berichtet Fritz Stellwaag in seinem Lehrbuch. Sind zu wenig Blätter übrig, bildet der Wein Triebe ohne Blütenstände aus. Damit rettet sich die Pflanze; sie trägt aber weniger Trauben.
Manchmal legen die Käferweibchen ihre Eier schon während der Arbeit in die Röhre und wickeln dann weiter. Manchmal fressen sie die Wickel erst nach getaner Arbeit so tief an, dass Rüssel und Kopf vollständig in dem Loch verschwinden. Dann drehen sie sich um, legen ein Ei und schieben es mit dem Rüssel hinein. Im Schnitt haben Forscher bereits 5, in der Spitze bis zu 15 Eier in einem einzigen Weinblattwickel gefunden. Jedes liegt einzeln für sich mit ein wenig Abstand zu den anderen. Die Larven schlüpfen 8 bis 16 Tage nach der Eiablage.
Eine Weile später fällt der Wickel auf den Boden und beginnt zu verrotten. In diesem Zustand fressen die Larven die Blätter besonders gern. Nach fünf bis acht Wochen graben sie sich ein paar Zentimeter tief in den Boden ein und verpuppen sich. Noch im Herbst desselben Jahres schlüpfen die neuen ausgewachsenen Käfer. Doch sie bleiben weitgehend unsichtbar, denn viele verharren in ihrer Puppenwiege. Die anderen suchen sich bald ein geschütztes Versteck für den Winter.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe es mehrere Jahre mit Rebenstecher-»Kalamitäten«, also Massenauftreten gegeben, berichtet Fritz Stellwaag; zu dem Massenauftreten kam es, wenn das Wetter besonders günstig für die Käfer war. Dann konnten sie sich in der Weinrebenmonokultur bestens vermehren.
Allerdings kamen sie stets nur an einzelnen Standorten vor. Der Zoologe vermutete damals, dass es mit der Bodenbeschaffenheit zusammenhing. Ist der Boden zu sandig, trocknet er zu schnell aus, und die Larven sterben. Ist er zu lehmig, können sie sich auch nicht ordentlich entwickeln.
Inzwischen sind der Rebenstecher und die kuriosen Blattwickel so gut wie vollständig aus den Weinbergen verschwunden. »Es gibt einzelne Gegenden, einzelne Weinberge, einzelne Jahre, in denen man diese Blattzigarren noch findet«, sagt Annette Reineke. Große Fraßschäden aber bleiben aus.
Der Rückgang des Rebenstechers begann schon zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Damals setzte man teilweise sehr viel heftigere Pflanzenschutzmittel ein als heute. »Schon in den 1930er Jahren spritzten Winzer arsenhaltige Insektizide«, erklärt die Forscherin. Diese Substanzen wurden nach kurzer Zeit verboten, weil sie schlicht zu giftig waren – letztlich auch für die Menschen, die sie verteilten. Dennoch brachen die Populationen der Rebenstecher in den Weinbergen ein.
Und auch wenn Arsen aus den Spritzen der Winzerinnen und Winzer verschwand – es folgten noch viele Jahrzehnte mit anderen, sehr effektiven Insektengiften wie beispielsweise DDT. Viele dieser Substanzen lassen sich immer noch im Boden und sogar in Pflanzen an Weinbergen nachweisen, etwa an der Mosel, wo der Mosel-Apollofalter (Parnassius apollo vinningensis) kurz vor dem Aussterben steht.
»Wir haben noch Wissenslücken, welche Auswirkung die Rückstände von giftigen Pflanzenschutzmitteln dauerhaft auf gewisse Organismen haben, seien es jetzt Insekten oder andere bodenbewohnende Organismen«Annette Reineke, Agrarwissenschaftlerin
»Wir haben noch Wissenslücken, welche Auswirkung diese Rückstände dauerhaft auf gewisse Organismen haben, seien es jetzt Insekten oder andere bodenbewohnende Organismen«, sagt Reineke. Viele Fragen gebe es zum Beispiel dazu, wie sich die Rückstände der vielen Substanzen im Boden gegenseitig beeinflussen. Fachleute sprechen von einem Cocktaileffekt. »Es ist sehr schwierig und teuer, das zu untersuchen.« Eine Ausnahme: Für Kupfer sei sehr gut belegt, dass das Metall negative Effekte auf die Regenwurmpopulation hat.
Nicht auf Weinlaub spezialisiert
Vielleicht ist es das Glück des kleinen metallisch schimmernden Rebenstechers, dass er nie auf Weinlaub spezialisiert war. Wie der wissenschaftliche Artname betulae verrät, entwickelt er sich auch gern auf Birkenblättern. Die sind viel kleiner als Weinlaub, darum verwenden die Käferweibchen an Birken mehrere Blätter für ihre Zigarren. Der Rebenstecher wickelt und entwickelt sich auch an Birne, Quitte, Espe, Linde oder Pappel oder an verschiedenen Hecken. In Deutschland gilt die Art als ungefährdet.
Wer die Tiere beobachten möchte, sollte nach ihren Wickeln Ausschau halten. Allerdings legen auch manche Schmetterlingsarten sowie der Pappelblattroller Blattwickel an. »Wenn man so einen Wickel sieht, lohnt es sich, ihn vorsichtig zu öffnen und reinzuschauen«, sagt Annette Reineke. Eine Käferlarve lasse sich recht gut von einer Schmetterlingslarve unterscheiden. Wie den meisten Käferlarven fehlten auch dem Nachwuchs der Rebenstecher die Beine. Die Raupen von Schmetterlingen hingegen haben drei Brustbeinpaare.
Die erwachsenen Tiere lieben Sonnenschein und verkriechen sich erst bei Temperaturen von deutlich mehr als 30 Grad Celsius in den Schatten. Wer einen der glänzenden Käfer entdeckt, sollte sich ihm allerdings vorsichtig nähern, denn die Tiere lassen sich bei der geringsten Erschütterung fallen. Ausgewachsene Rebenstecher sind von Mitte April bis in den hinein September aktiv.
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