Eine Prise Chemie: Was Karamell unwiderstehlich macht

Wer schon einmal die knusprige Kruste einer perfekten Crème brulée geknackt und gekostet hat, weiß, was »unwiderstehlich« bedeutet. Dabei bestand diese Schicht noch kurz zuvor nur aus schnöden weißen Zuckerkristallen. Doch nun ist da eine Fülle von Aromen, fruchtig, nussig und karamellartig, vielleicht auch mit bitteren, rauchigen oder gar verbrannten Noten. Die Reaktion, die zu dieser Vielfalt führt, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Noch immer versteht man sie nicht im Detail, verwechselt sie mit einer anderen berühmten Reaktion und bezeichnet Speisen nach ihr, die nichts damit zu tun haben.
Was auf der Crème brulée beim Flambieren abläuft, ist eine Karamellisierung. Das Prinzip ist auf den ersten Blick simpel: Man braucht Haushaltszucker und einen Topf. Erhitzt man den Zucker darin, schmelzen zunächst die Kristalle. Kurz darauf verfärbt sich die Masse stellenweise hellbraun und nimmt dann eine immer dunklere Farbe an. Je nachdem, wie lange und intensiv man das Ganze weiter erhitzt, erhält man am Ende eine strohfarbene bis dunkelbraune klebrige Masse, die verlockend duftet und die man (nach dem Abkühlen) genießen kann.
In der Umsetzung ist es aber nicht immer so leicht. Die ersten Versuche werden vermutlich noch nicht überzeugen – es dauert eine Weile, bis man herausgefunden hat, wie lange man den Topf auf dem Herd lassen sollte, damit das Ergebnis den eigenen Geschmack am besten trifft. Denn zwischen hellem und dunklem Karamell können geschmacklich Welten liegen. Und wenn man es überreizt, verbrennt das Ganze.
Mit den chemischen Details verhält es sich ganz ähnlich: Die Karamellisierung fängt einfach an und wird dann komplizierter. Zuerst liegt der Zucker nur in Form von Saccharose vor – ein Molekül, das man sich als zwei miteinander verknüpfte Ringe vorstellen kann. Die Ringe sind Fruktose (Fruchtzucker) und Glukose (Traubenzucker). Beim Erhitzen trennen sie sich, und man erhält die Einfachzucker.
In der Hitze reagieren diese Moleküle direkt weiter, sodass sich kleine, flüchtige Substanzen bilden, die wir kurze Zeit später über unsere Nase erschnuppern können. Dazu zählen ringförmige Moleküle wie das nussig riechende Methylfurfural oder Maltol, das den Duft von Zuckerwatte oder geröstetem Toast verbreitet. Außerdem bilden sich kleinere Molekülstückchen ganz ohne Ringe, wie das buttrig duftende Diacetyl oder das fruchtige Ethylacetat (wobei man sich über dieses spezielle Aroma streiten kann. Auch Nagellackentferner riecht so). Lässt man die Masse länger auf dem Herd, entstehen aus der schon vorliegenden Vielfalt an Substanzen rauchige und schließlich verbrannte Aromen: etwa das fruchtig angebrannt riechende Isomaltol, das rauchige Guajacol oder Kresole, die den Eindruck von Teer erwecken können.
Es entstehen aber nicht nur kleine Moleküle. Experten teilen die Karamellisierung in zwei Phasen ein, den entstehenden Stoffen entsprechend: Während in der ersten Phase das Feuerwerk der Aromen im Vordergrund steht, überwiegt ab einem gewissen Punkt das Braunwerden und Verkleben – nachdem erst einmal alles in kleine Bruchstücke zerlegt wurde, kleben in der zweiten Phase nach und nach die Moleküle zu großen Gebilden zusammen. Die Einfachzucker verbinden sich teils wieder untereinander, vor allem mit fortschreitender Reaktion. Dabei spalten sie Wasser ab und bilden unvorhersagbare Ketten aus mehreren Bausteinen, Oligomere genannt. Es ergeben sich vielfältige Strukturen, da sich die Bausteine an verschiedenen Positionen auf unterschiedliche Weise verknüpfen können; außerdem können sie an bestimmten Stellen selbst leicht verändert sein, etwa Wasser abgespalten haben. Was für ein Durcheinander!
Man kann sich vielleicht vorstellen, wie unübersichtlich das Ganze ist, wenn in einem Kochtopf viele verschiedene kleine Bausteine entstehen, die wiederum auf vielfältige Art miteinander und mit den schon gebildeten Produkten reagieren können. Laut Schätzungen kommen in Karamell mehrere tausend Inhaltsstoffe zusammen. Kein Wunder, dass Fachleute die Reaktion bis heute nicht detailliert aufgeklärt haben – obwohl sie sich schon seit Jahrhunderten damit beschäftigen. Bis vor einigen Jahren noch klassifizierten Lebensmittelchemiker die Substanzen deshalb nur grob in drei Klassen, je nachdem, wie viele Zuckermoleküle sie enthalten, und nannten sie: Caramelan (C12H12O9), Caramelen (C36H18O34) und Caramelin (C24H26O13). Im Jahr 2012 untersuchte eine Forschungsgruppe von der Jacobs University Bremen die langkettigen Stoffe mit neueren spektroskopischen Methoden und identifizierte dabei 40 einzelne Molekülstrukturen.
Vor allem von den langkettigen Produkten der Karamellisierung profitiert man, wenn man Zuckercouleur herstellt. Man gibt am Ende, wenn der Karamell schon sehr dunkel ist, Wasser dazu und erhält so eine braune, fast schwarze Flüssigkeit, mit der sich Soßen dunkler färben lassen und deren Säure man damit abmildern kann. Meine Großmutter zeigte mir diesen Trick einmal beim gemeinsamen Kochen, ganz ohne chemische Erklärungen. Auch viele industrielle Lebensmittel enthalten Zuckercouleur als Farbstoff (E 150a). Es gibt außerdem Varianten davon, die zwar als Karamell bezeichnet werden, aber streng genommen von einer Maillard-ähnlichen Reaktion profitieren (E 150b, d und d): Um diese zu erzeugen, erhitzt man Zucker zusammen mit Zutaten, die Stickstoff oder Schwefel enthalten.
Und so sind die typischen »karamellisierten Zwiebeln« nicht wirklich karamellisiert. Gibt man Zwiebelringe mit Zucker (oder Honig, Sirup oder Ähnlichem) in die Pfanne, reagieren zuerst die Aminosäuren aus der Zwiebel mit Zuckermolekülen. Daraus folgt ein Feuerwerk an Reaktionen, die unzählige Aromen bilden. Es läuft also die berühmte Maillard-Reaktion ab. Tatsächlich werden die beiden Reaktionen oft verwechselt, und das ist auch naheliegend: Beide entfalten teils ähnliche leckere Aromen, bei beiden färbt sich das Lebensmittel braun und wird knusprig. Allerdings kann man am Geruch eindeutig unterscheiden, was stattgefunden hat, wenn man etwas darauf achtet: Da bei der Maillard-Reaktion Aminosäuren reagieren, entstehen flüchtige Moleküle, die Stickstoff- und mitunter auch Schwefelatome tragen. Das gibt herzhafte, fleischige Brat- und Röstnoten – und die unterscheiden sich doch deutlich von dem lieblichen, eher süßlichen Duft, den man vom Karamell kennt.
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