Erziehung: Lasst Kinder auch mal scheitern!

Als mein älterer Sohn Jack in der Highschool war, nahm er im Sommer einen Ferienjob an, bei dem er von Tür zu Tür gehen und Solarmodule verkaufen musste. Meine erste Reaktion war, ihm davon abzuraten. Ich wollte ihn beschützen – ich hatte Angst davor, dass er einen ganzen Sommer lang immer wieder Ablehnung erleben würde. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie mein Sohn, ein guter Schüler und Sportler, mit so vielen Misserfolgen umgehen sollte.
Es ist ganz natürlich, dass Eltern ihre Kinder vor Misserfolgen schützen möchten. Aber oft umsorgen wir sie in Situationen, in denen es um wenig geht. Unbeabsichtigt nehmen wir ihnen dadurch wichtige Erfahrungen und die Chance, jenes Selbstvertrauen zu entwickeln, das wir eigentlich fördern wollen. Stattdessen sollten wir lernen, unsere Kinder gut scheitern zu lassen.
Fairerweise muss man sagen, dass sich Eltern in einer Zwickmühle befinden: Beschützen wir unseren Nachwuchs übermäßig, werden wir als Helikoptereltern verspottet. Sorgen wir uns zu wenig um sie, stehen wir möglicherweise vor katastrophalen Folgen. Erschwert wird das dadurch, dass alle paar Jahre andere Erziehungsmethoden empfohlen werden: mal fürsorglich und kontrollierend, mal Laisser-faire. Deshalb ist es verständlich, dass Eltern hin- und hergerissen sind: Soll man Kinder ihre eigenen Fehler machen lassen – oder besser Risiken begrenzen, Hindernisse aus dem Weg räumen und Misserfolge verhindern?
Eltern, die in dieser Zwickmühle gefangen sind, leiden darunter. Und ihr Nachwuchs auch. Doch dieses Entweder-oder-Denken ist nicht der richtige Weg, um ein gutes Urteilsvermögen und eine abenteuerlustige, lernorientierte Einstellung zu fördern. Eltern können ihren Kindern dazu verhelfen, indem sie sie die »richtigen« Fehler machen lassen. Dazu müssen sie zweierlei beachten: zum einen, um welche Art von Fehler es sich im Einzelfall handelt, zum anderen, mit welchen Risiken er verbunden ist.
Manche Fehler sind nützlich
In meiner Forschung habe ich drei Arten von Misserfolgen identifiziert: grundlegende, komplexe und intelligente. Grundlegende Misserfolge haben einzelne Ursachen – in der Regel ist das ein simpler Fehler, der sich vermeiden lässt. Aus diesem Grund gestalten wir unsere Wohnungen kindersicher, wenn unser Nachwuchs klein ist. Wir sorgen dafür, dass sich Medikamentenflaschen nicht ohne die nötige Kraft öffnen lassen. Grundlegende Fehler zu machen, bringt keine neuen Erkenntnisse, und meist ist man gut beraten, sie grundsätzlich zu vermeiden. Für Kinder, die eine neue Fähigkeit erlernen, können einige dieser Fehler – die ungefährlichen – allerdings nützlich sein. Wenn sie beispielsweise beim Kochen Salz und Zucker verwechseln, ist schlimmstenfalls das Essen ungenießbar, aber sie lernen, künftig besser aufzupassen.
Komplexe Fehler hingegen haben mehrere Ursachen. Für sich genommen sind sie harmlos; zusammen verursachen sie Chaos. Man vergisst zum Beispiel, das Handy aufzuladen. Dann bleibt man auf der Autobahn im Stau stecken, kann den Partner nicht anrufen und die Kinder werden nicht rechtzeitig aus der Kita abgeholt. Auch die meisten komplexen Fehler lassen sich vermeiden, indem man wachsam bleibt. Aber wir alle kennen Tage, an denen einfach alles schiefläuft. Und in unserer immer komplexeren Welt werden Fehler dieser Art weiterhin passieren. Wir können nur aus ihnen lernen und es beim nächsten Mal besser machen.
Viel entscheidender sind die intelligenten Fehler. Das sind diejenigen, die Eltern zulassen sollten, damit ihre Kinder überhaupt lernen können, mit Misserfolgen umzugehen und Fehler als Entwicklungschance zu betrachten statt als ein Unglück, das es zu vermeiden gilt. Die meisten von uns sollten nicht weniger, sondern öfter scheitern, wenn sie ihre Potenziale ausschöpfen wollen. Erfolgreiche Menschen haben das längst bewiesen: Der Schweizer Tennisstar Roger Federer zum Beispiel hat während seiner glanzvollen Karriere nur 54 Prozent seiner vielen tausend Ballwechsel für sich entscheiden können (was beweist, wie er selbst sagt, dass »sogar Spitzentennisspieler kaum mehr als die Hälfte der Punkte gewinnen, die sie spielen«). Die renommierte Chemieprofessorin Jennifer Heemstra gibt zu, dass 90 Prozent der Experimente in ihrem Labor scheitern. Warum also vermitteln viele Eltern ihren Kindern, dass Misserfolge etwas sind, wovor man sich schützen muss?
Erinnern Sie sich an Jack und seinen Ferienjob: Solarmodule verkaufen. Es stellte sich heraus, dass die meisten Leute tatsächlich keine kaufen wollten, und einige reagierten sogar ausgesprochen unhöflich. Doch ein paar sagten Ja, und das machte ihn stolz – er hatte damit einige Häuser in unserer Gegend mit erneuerbarer Energie versorgt. In der Zwischenzeit lernte er, nach jeder Ablehnung innezuhalten und sich zu sagen, dass ein »Nein« nur ein Schritt auf dem Weg zum nächsten »Ja« war. Er baute eine gesunde Widerstandsfähigkeit gegenüber Rückschlägen auf, und die kommt ihm inzwischen in seiner beruflichen Laufbahn zugute.
Die erfolgreichsten Menschen sind diejenigen, die gelernt haben, wie man am besten scheitert
Misserfolge können Kindern zum Erfolg verhelfen. Dazu müssen wir sie ermutigen, wohlüberlegte Risiken einzugehen und immer wieder ihre Komfortzone zu verlassen, etwa sich für das Schultheater zu bewerben oder einen Klassenkameraden um ein Date zu bitten. Natürlich müssen sie mit Ablehnung rechnen. Aber das ist kein Problem, sondern eine Chance. Die erfolgreichsten Menschen sind diejenigen, die gelernt haben, wie man am besten scheitert: Sie haben auf dem Spielfeld häufiger danebengetroffen, haben auf ihre Bewerbungen mehr Absagen erhalten. Ihr Erfolg kommt nicht daher, dass sie auf Anhieb alles erreicht haben. Er resultiert daraus, dass sie es versucht, sich verbessert und es erneut versucht haben.
Natürlich ist es schwer, die eigenen Kinder scheitern zu sehen. Man kann ihre Enttäuschung mitfühlen. Am liebsten möchte man schnell alles für sie in Ordnung bringen, damit es ihnen wieder gut geht. Doch man muss mit dem eigenen Unbehagen und der eigenen Angst umgehen lernen, um die Kinder nicht um wichtige Erfahrungen zu bringen.
Einen Fehler akzeptieren
Geben Sie Ihren Kindern also Raum, damit sie auf kontrollierte und sichere Weise scheitern können. Bringen Sie ihnen bei, die eigenen Fehler zu akzeptieren. Zeigen Sie ihnen, wie sie nach vorne schauen und mit neuen Erkenntnissen und neuer Energie die nächste Herausforderung angehen können. Sie sollen sich nicht an Misserfolgen aufhängen, sondern so viel wie möglich aus ihnen lernen.
Diese Denkweise – die Psychologin Carol Dweck spricht von »Wachstumsdenken« (»growth mindset«) – ist eine unschätzbare Ressource für Kinder, gerade in dieser sich so schnell verändernden Welt. Als mein jüngerer Sohn Nick mit etwa acht Jahren Skifahren lernte und mich bat, ihm dabei zuzusehen, stellte ich mich pflichtbewusst unten hin und wartete. Nach einer kurzen Abfahrt schaute er mich an und fragte: »Wie war ich?« Ich antworte: »Du warst großartig!« Anstatt sich zu freuen, sah Nick jedoch verwirrt, sogar enttäuscht aus und fragte: »Kannst du mir nicht sagen, was ich falsch gemacht habe, damit ich mich verbessern kann?«
Offenbar hatte er von mir erwartet, dass ich ihn bei seiner Entwicklung unterstützte, anstatt das Ergebnis uneingeschränkt zu loben. Als Psychologin, die mit Dwecks Forschung vertraut ist, hätte ich zum Beispiel sagen können: »Du hattest deine Geschwindigkeit gut im Griff und schienst Spaß zu haben. Wenn du noch etwas mehr in die Knie gehst und deinen Oberkörper nach vorne beugst, verbessert sich deine Haltung.«
Intelligent zu scheitern kann auch bedeuten, sich neue Ziele zu setzen
Ich wollte meinen Kindern stets beibringen, Erfolge nicht überzubewerten, sondern sich gute Lerngewohnheiten anzueignen. Das heißt natürlich nicht, dass man Kinder nicht auch für ihre Erfolge loben darf. Aber wenn sie stets nur ein »Gut gemacht« hören, ziehen sie daraus womöglich den Schluss, dass es allein um das Ergebnis geht. Mit der Formulierung »Guter Versuch!« oder »Toller Fortschritt!« kann man sie zum Weiterlernen ermutigen und zugleich vermitteln, dass sogar Misserfolge ihr Gutes haben.
Misserfolge können uns zu immer neuen kleinen Fortschritten zwingen und uns so einem Ziel langsam näher bringen. Intelligent zu scheitern kann jedoch ebenso bedeuten, sich neue Ziele zu setzen – so wie damals, als ich aus dem Basketballteam meiner Highschool ausgeschlossen wurde und daraufhin den Debattierklub für mich entdeckte. Egal ob ein vergebener Matchball auf dem Tennisplatz oder ein Ablehnungsbescheid von der Traumuniversität: Viele Misserfolge sind mit langfristigen Zielen verbunden, die Nachdenken erfordern, auch um unnötige Risiken zu vermeiden.
Deshalb sollten Eltern überlegen, welcher Art die Fehler sind, die ihre Kinder zu begehen drohen. Auf diese Weise können sie sie vor etwaigen katastrophalen Fehlern bewahren und zugleich intelligentes Scheitern zulassen. Das erlaubt den Kindern, psychisch widerstandsfähig zu werden und das eigene Potenzial auszuschöpfen – und nicht etwa Versagensängsten nachzugeben oder sich für Misserfolge zu schämen.
Hören Sie also auf, Ihr Kind reflexartig vor jedem Fehler schützen zu wollen. Achten Sie auf Ihre Instinkte – in vielen Situationen sind sie wertvoll, in anderen aber nicht. Fragen Sie sich: »Was ist in diesem Fall das Risiko? Um welche Art von Fehler würde es sich handeln?« Ermutigen Sie Ihre Kinder, wohlüberlegte Risiken einzugehen. Helfen Sie ihnen, die möglichen Folgen ihrer Entscheidungen zu durchdenken. Und dann lassen Sie sie selbst entscheiden.
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