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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der genialsten Mathematikerin des 19. Jahrhunderts

Sofja Kowalewskaja war die weltweit erste Professorin für Mathematik. Doch bis die Russin berufen wurde, musste sie Umwege beschreiten – und erst einmal heiraten, wie unsere Geschichtskolumnisten erzählen.
Die Mathematikerin Sofja Kowalewskaja (1850–1891).
Ein Porträtfoto der Mathematikerin Sofja Kowalewskaja (1850–1891).

Jedes Jahr verleiht die Französische Akademie der Wissenschaften eine Auszeichnung, die mit großen Ehren verbunden und hoch dotiert ist: den Prix Bordin. Am 24. Dezember 1888 erhielt wohl erstmals eine Frau den Preis. Ihre Arbeit »Das Problem der Drehung eines starren Körpers am festen Punkt« überzeugte so sehr, dass die Akademie das Preisgeld von 3000 auf 5000 Francs erhöhte. Die Verleihung war eine Sensation.

Die Preisträgerin hieß Sofja Kowalewskaja (1850–1891). Sie hatte die Lösungen für drei Problemstellungen eingereicht, mit denen sich die Größen der Mathematik schon seit Jahrzehnten herumgeschlagen hatten. Ein Problem löste sie dabei allein mit den damals bekannten Mitteln der Analysis. Ihr wichtigster Förderer und Lehrer, Karl Weierstraß, war Experte auf dem Gebiet und gab den Anstoß für Kowalewskajas Forschung. Bis sie jedoch in der glücklichen Lage war, mit einem bekannten Mathematiker wie Weierstraß zusammenzuarbeiten, war es ein langer und steiniger Weg. Wie gelang der jungen Russin diese außergewöhnliche Karriere?

Als Kowalewskaja 1850 in Moskau geboren wurde, hätten die wohlhabenden Eltern ihr eigentlich eine gute Ausbildung finanzieren können. Das war für Töchter aber nicht vorgesehen. Der Vater war Generalleutnant, die Mutter Enkelin eines berühmten Astronomen und Tochter eines Armeetopografen. Der Vater besuchte während seiner Ausbildungszeit Vorlesungen des Mathematikers Michail Ostrogradski (1801–1862) – was für die Berufswahl seiner Tochter wichtig war. Warum, das berichtet Kowalewskaja in ihren Memoiren: Weil für ihr Kinderzimmer am Landsitz die Tapete nicht ausgereicht hatte, mussten kurzerhand Blätter aus den Vorlesungen Ostrogradskis als Wandbedeckung herhalten. »Ich erinnere mich, wie ich in meiner Kindheit ganze Stunden vor dieser mysteriösen Wand verbrachte … Durch langes und tägliches Prüfen hat sich der äußere Aspekt vieler dieser Formeln ziemlich in mein Gedächtnis eingebrannt, und sogar der Text hat eine tiefe Spur in meinem Gehirn hinterlassen, obwohl er im Moment des Lesens für mich unverständlich war.«

Als 15-Jährige erstaunte sie ihren Mathematiklehrer mit ihrer schnellen Auffassungsgabe. Doch in Russland wie in ganz Europa schien es undenkbar zu sein, dass eine Frau Mathematik studiert. Ein Kunstgriff war von Nöten.

Eine Revolutionärin – wissenschaftlich und politisch

Der Kunstgriff war eine »mariage blanc«, eine Scheinehe. Denn mit 18 war Sofja klar, dass sie ihr Glück außerhalb Russlands finden musste. Sie heiratete Wladimir Kowalewski, um vom Elternhaus unabhängig reisen zu können. Die Eheleute gehörten – wie auch Sofjas Schwester Anna – den Nihilisten an, einer Bewegung in Russland, die gegen die konservative Gesellschaftsordnung, gegen Staat und Kirche sowie für die Emanzipation der Frauen kämpfte.

Die drei reisten nach Europa und landeten zuerst in Heidelberg, wo Frauen allerdings Vorlesungen nur als Gasthörerinnen besuchen durften. Kowalewskaja lauschte dort den wissenschaftlichen Größen ihrer Zeit. 1870 zog sie weiter nach Berlin, wo sie sich dem Mathematiker Karl Weierstraß (1815–1897) vorstellte.

Er wollte für sie eine Immatrikulationserlaubnis beschaffen, was ihm jedoch nicht gelang. Das Problem war nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch ihre politischen Umtriebe – Revolutionärinnen wurden überall mit Misstrauen beäugt. Weierstraß war aber so von Kowalewskajas Potenzial überzeugt, dass er sie privat unterrichtete.

Und so nahm sie die nächsten vier Jahre Einzelunterricht beim wahrscheinlich besten Mathematiker im deutschsprachigen Raum. Er bewegte sie schließlich dazu, eine Dissertation einzureichen. Kowalewskaja gab gleich drei davon ab. Ihre Promotion fand 1874 »in absentia« in Göttingen statt. Sie graduierte summa cum laude und als erste Frau in der Mathematik seit der Renaissance.

Promoviert und ohne Job

Der Doktortitel brachte ihr jedoch keinen Arbeitsplatz ein, und auch in der Universitätslehre wurden ihr die Türen verschlossen. Mit Wladimir zurück in Russland erging es den beiden nicht viel besser. Ihr Mann stürzte sich deshalb in Spekulationsgeschäfte. Allerdings war zu dieser Zeit aus der Scheinehe längst eine echte Ehe geworden – und die gemeinsame Tochter Sofja kam zur Welt. Die junge Mutter legte ihre Arbeit auf Eis.

Doch 1876 regte ihr Mentor Weierstraß ein Treffen mit dem schwedischen Mathematiker Magnus Gösta Mittag-Leffler (1846–1927) an, was Kowalewskajas Leben eine entscheidende Wendung geben sollte. Sie begann sich ab zirka 1880 auch wieder mehr mit der Mathematik zu beschäftigen, nachdem sie ihre Tochter bei Verwandten untergebracht hatte. Sie wandte sich von ihrem Mann ab und kehrte zurück nach Berlin.

»Nein, ich hoffe um der Hunde willen, dass sie nicht so unglücklich sein können wie die Menschen und besonders die Frauen«Sofja Kowalewskaja

1883 erschütterte sie die Nachricht vom Selbstmord ihres tief verschuldeten Ehemanns. Es war jedoch Ironie des Schicksals – sein Tod gab Kowalewskaja eine neue Freiheit. Denn als Witwe durfte sie angestellt werden. Und so schaffte es Mittag-Leffler trotz einiger politischer Widrigkeiten, sie als Privatdozentin an die neu gegründete Stockholmer Universität zu berufen. Schnell nahm sie dort das Fachkollegium für sich ein, die Zeitung »Dagens Nyheter« bezeichnete sie sogar als »Königin der Wissenschaft«. Zwar bekam sie von konservativer Seite immer wieder Gegenwind, doch ihre härteste Kritikerin war sie selbst: »Habe heute meine erste Vorlesung gehalten. Weiß nicht, ob es gut oder schlecht war, weiß bloß, sehr traurig war’s, nach Hause zu kommen und sich so einsam in der weiten Welt zu fühlen.«

Herausgeberin, Professorin, Preisträgerin

Allzu schlecht waren ihre Vorlesungen wohl sicher nicht, da Kowalewskaja für fünf Jahre auf eine außerordentliche Professur berufen wurde und als erste Frau die Fachzeitschrift »Acta Mathematica« herausgab. Die Aufnahme in die Schwedische Akademie der Wissenschaften blieb ihr verwehrt, doch darüber sollte der Prix Bordin sie 1888 eigentlich hinwegtrösten. In einem Brief an Mittag-Leffler im Januar 1889 beschreibt sie jedoch das Gefühl innerer Leere nach der Preisverleihung: »Von allen Seiten erhalte ich Glückwunschschreiben und vermöge einer wunderlichen Ironie des Geschickes habe ich mich nie in meinem Leben so unglücklich gefühlt wie jetzt. Unglücklich wie ein Hund! Nein, ich hoffe um der Hunde willen, dass sie nicht so unglücklich sein können wie die Menschen und besonders die Frauen.«

Im Juni 1890 folgte ihr letzter großer Triumph: Als erste Frau der Neuzeit wurde sie unbefristet Professorin in Stockholm. Sie hatte zwar eine nominelle Vorgängerin, Maria Gaetana Agnesi (1718–1799), die 1750 in Bologna zur Professorin ernannt wurde. Doch Agnesi hatte nie die Lehre aufgenommen.

Anfang 1891 erkrankte Kowalewskaja schwer und starb kurz darauf mit nur 41 Jahren. Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie das Unmögliche möglich gemacht, wie es die französische Mathematikerin Michéle Audin in ihrem Buch »Remembering Sofya Kovalevskaya« beschreibt und auch der Mathematiker Reinhard Bölling: Sie war anerkannt im Kreis der führenden Mathematiker Europas. Damit legte Sofja Kowalewskaja einen Grundstein dafür, dass Frauen heute in den Naturwissenschaften nicht mehr nur Ausnahmeerscheinungen sind, obgleich in vielen Wissenschaftsdisziplinen noch viel zu wenige Forscherinnen tätig sind – etwa in der Mathematik. Die höchste Auszeichnung in diesem Feld, die Fields-Medaille, macht das deutlich. Den Preis gibt es seit 1950, aber gewonnen haben ihn bisher nur zwei Frauen: 2014 die inzwischen verstorbene Maryam Mirzakhani und 2022 Maryna Viazovska.

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