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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der Kotze-Affäre, eines Sexskandals am Kaiserhof

Adel, Sex und Schlittenfahrt – wie ein frivoler Ausflug das wilhelminische Berlin erschütterte und den ehrenwerten Namen eines Mannes befleckte, erzählen unsere Kolumnisten.
Festkomitee des Berliner Gesindeballs im Jahr 1898. Symbolbild für eine ausgelassene Gesellschaft wilhelminischer Zeit.

Es ist Januar im Jahr 1891. Einige Mitglieder des kaiserlichen Hofs begeben sich auf eine Schlittenfahrt in Berlin. Die illustre Gesellschaft, darunter der Schwager und der Zeremonienmeister von Kaiser Wilhelm II., vergnügt sich, bis die Dämmerung hereinbricht. Es wird beschlossen, die Nacht im pittoresken Jagdschloss Grunewald zu verbringen.

Die 15 Anwesenden speisen fürstlich zu Abend, der Champagner fließt in Strömen, bis zu fortgeschrittener Stunde die Stimmung so ausgelassen wird, dass nicht nur Hemmungen, sondern auch Kleidungsstücke fallen. Schnell kommt man sich näher, bis das Ganze schließlich in einer veritablen Orgie endet.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Am nächsten Tag bricht die Runde wieder auf. Und ein jeder und eine jede gehen davon aus, dass die vergnüglichen Stunden des Vorabends im Dunkel der Vergangenheit verborgen bleiben.

Doch weit gefehlt.

Skandalbriefe machen die Runde

Es entfaltet sich ein handfester Sexskandal um den Kaiserhof. Die Ereignisse hat unter anderem der Historiker Wolfgang Wippermann in seinem Buch »Skandal im Jagdschloss Grunewald« dargelegt. Denn schon einen Tag später erhalten nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Schlittenfahrt, sondern auch weitere Mitglieder des kaiserlichen Hofs Post. Es sind Briefe, in denen die Vorkommnisse jener Nacht nicht nur bis ins kleinste Detail geschildert werden, sie sind sogar teils mit pornografischen Zeichnungen versehen. Und wer bei dem ausschweifenden Stelldichein mitgemischt hat, ist mit Namen genannt.

Darunter Ernst Günther von Schleswig-Holstein (1863–1921), der Bruder der Kaiserin. Sein Spitzname »Herzog Rammler« bezeugt, dass er generell sexuellen Eskapaden nicht abgeneigt ist. Auch das Ehepaar von Hohenau steht auf der Liste – und Hohenau-Gattin Charlotte von der Decken (1863–1933) erhält in den Briefen die Bezeichnung »Lottchen von Preußen«. Lottchen galt damals als abwertender Ausdruck für eine Prostituierte.

Schnell findet der Inhalt der Briefe den Weg in die Öffentlichkeit. Nicht zuletzt, weil es am Hof üblich war, dass die Post, bevor sie an den Frühstückstisch kam, von Bediensteten geöffnet, gelesen und sortiert wurde.

Für die Betroffenen ist die Angelegenheit nicht nur peinlich, sondern auch brandgefährlich. Denn in den Briefen werden unter anderem homosexuelle Handlungen beschrieben, die zu jener Zeit noch mit bis zu zehn Jahren Haft unter Strafe standen. Und obwohl Mitglieder des Hofstaats eine Sonderstellung im Kaiserreich innehaben, sie also nicht mit denselben drakonischen Strafen wie der Rest der Bevölkerung rechnen müssen, sind die Briefe allemal ehrenrührig. Und die Ehre zu verlieren, das konnte in einer adeligen Stellung sehr reale und sehr drastische Folgen haben, wie die folgenden Jahre zeigen sollten.

Erst ein Fall für die Polizei, dann einer für die Selbstjustiz

Um der Schmach und den eventuellen Folgen zu entgehen, setzen die Beteiligten alles daran, die für die Briefe verantwortliche Person ausfindig zu machen. So wird Kommissar Eugen von Tausch auf den Fall angesetzt. Doch obwohl er sich selbst illegaler Methoden bedient, verlaufen seine Ermittlungen im Sand. Einer seiner Hauptverdächtigen, der oben erwähnte »Herzog Rammler«, verbündet sich daraufhin mit anderen Betroffenen, um auf eigene Faust den Schuldigen zu ermitteln. Schon bald haben sie einen Verdächtigen ausgemacht: den Zeremonienmeister des Kaisers, Leberecht von Kotze (1850–1920).

Leberecht von Kotze (1850–1920) | ... war ein preußischer Zeremonienmeister am Hof des deutschen Kaisers. In der nach ihm benannten Kotze-Affäre wurde er zu Unrecht verdächtigt, skandalträchtige Briefe aufgesetzt und verbreitet zu haben.

Von Kotze war zwar bei Kaiser Wilhelm II. beliebt, doch innerhalb des Hofstaats hatte er einen schlechten Stand. Ihm wurde nachgesagt, ein Lästermaul zu sein, auch seine Vorliebe für elegante Kleidung sorgte für Missfallen.

Um von Kotze die Schuld zuzuschieben, entwendet man aus seinem Haus Löschblätter. Und auf einem zeichnet sich dann doch tatsächlich das Wort »Lottchen« ab. Ein Grafologe wird hinzugezogen, der zu dem Schluss kommt, dass die Abdrücke den »Eindruck der Absichtlichkeit« vermitteln. Höchstwahrscheinlich handelt es sich also um eine Fälschung. Dennoch schafft es die Gruppe, den Kaiser von der Schuld von Kotzes zu überzeugen. So wird der Zeremonienmeister am 17. Juni 1894 – mehr als zwei Jahre nach dem Auftauchen der ersten Briefe – vom Chef des Militärkabinetts verhaftet.

Für eine Schuldzuweisung fehlen Beweise

Doch die Anklage steht auf wackligen Beinen. Vor allem weil der Grund der Verhaftung – verleumderische Beleidigung und Verbreitung unzüchtiger Schriften – nach einer Anklage vor einem ordentlichen Gericht verlangt. Von Kotze soll allerdings vor einem Militärgericht angeklagt werden. Das ist aber nicht möglich, weil er Rittmeister außer Dienst ist. Kurzerhand wird er wieder aktiviert, vom Rittmeister a. D. zum Rittmeister z. D. (zur Disposition) gemacht.

Allerdings schwindet die Glaubwürdigkeit der Anklage, da weitere obszöne Briefe über die Schlittenfahrtgesellschaft auftauchen – obwohl von Kotze in Haft ist. Letztlich wird der beschuldigte Zeremonienmeister aus dem Gefängnis entlassen.

Doch für den Kaiser ist die Sache noch nicht vorbei. Er setzt eine Untersuchungskommission ein, die von Kotzes Schuld beweisen soll. Diesem reicht es nun aber. Er nimmt sich einen Anwalt und geht an die Öffentlichkeit. Der gesamte Skandal gelangt an die Presse. In Zeitungsberichten beschuldigt von Kotze diejenigen, die ihn verurteilt sehen wollten.

Das Bürgertum ist empört, der Kaiserhof bloßgestellt. Die Schmach ist derart verletzend, dass einer der Widersacher, Karl Freiherr von Schrader (1848–1896), von Kotze zum Duell fordert. Dieser nimmt an. Das Schießgefecht endet ohne Sieger und Verletzte. Nachdem von Kotze dann in einem weiteren Prozess vor dem Militärgericht freigesprochen wird, lenkt auch der Kaiser ein. Er akzeptiert von Kotzes Unschuld und verlangt eine Entschuldigung von jenen, die diesen zu Unrecht beschuldigt hatten. Die meisten Ankläger leisten Folge, doch drei weigern sich, darunter Freiherr von Schrader. Von Kotze, der nun wiederum seine Ehre verletzt sieht, fordert alle drei zum Duell.

Wieder soll ein Duell die Ehre wiederherstellen

Einer der drei tritt schließlich am 13. April 1895 gegen von Kotze an. Der wird am Bein verletzt, und obwohl Duelle damals verboten sind, schickt der Kaiser ihm Genesungswünsche ins Krankenhaus. Für Schrader ist die Sache aber noch nicht vorbei. Er fordert von Kotze einige Monate später wieder heraus. Am Ende ist Schrader tot und von Kotze im Gefängnis. Wegen Totschlags wird er zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Einige Monate später begnadigt ihn der Kaiser jedoch. Der Zeremonienmeister zieht sich auf sein Anwesen zurück, wo er den Rest seines Lebens verbringt.

Der Skandal schadet dem Ansehen des kaiserlichen Hofstaats. Nicht nur wegen der moralischen Verfehlungen, auch die Austragung von eigentlich verbotenen Duellen sorgt für Aufruhr in der Bevölkerung. Die Tatsache, dass der Kaiser die Duelle billigte, mündet schließlich in einen parlamentarischen Antrag durch die Sozialdemokraten. Sie fordern das Kaiserhaus auf, sich stärker gegen die illegale Praxis einzusetzen.

Was zwischen all den Versuchen, verlorene Ehre wiederherzustellen, in den Hintergrund rückt, ist die Frage, wer nun tatsächlich für die Briefe verantwortlich ist. Eine Theorie der Historiker besagt, dass vielleicht der Schwager des Kaisers selbst die Briefe verfasst hatte, mit der Hilfe von Komplizen. Doch obwohl heute noch mehr als 200 dieser Briefe im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz lagern, ließ sich bislang nicht sicher beantworten, wer tatsächlich hinter den skandalösen Schreiben steckt.

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