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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Forschers, der in die Fänge der Nazis geriet

Ludwik Fleck war Experte für das tödliche Fleckfieber. Dank seiner Kenntnisse überlebte er zwei Konzentrationslager. Doch nicht nur als Biologe wurde er weltberühmt, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Zwei Forscher arbeiten in einem Labor im Deutschland der 1930er Jahre.
Zwei Forscher arbeiten in einem Labor im Deutschland der 1930er Jahre. Der Mikrobiologe Ludwik Fleck (1896–1961), der auf Grund seines jüdischen Glaubens bereits vor dem Zweiten Weltkrieg kaum eine Anstellung bekam, richtete sich zu Hause ein Labor ein.

Das Fleckfieber heißt nicht Fleckfieber, weil etwa der Mikrobiologe Ludwik Fleck zu den führenden Experten im Kampf gegen diese Infektionskrankheit gehörte. Es heißt Fleckfieber, weil sich bei den daran erkrankten Menschen ein fleckiger Ausschlag auf der Haut bildet. Doch Ludwik Fleck hatte die Forschung um diese Bakterienerkrankung entscheidend vorangebracht – teils unter größten Entbehrungen und unmenschlichen Bedingungen. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte der jüdische Forscher einen Hauttest für das Fleckfieber, an dem – bleibt es unbehandelt – bis zu 40 Prozent der Erkrankten sterben. Dann, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, zwangen die Nationalsozialisten Fleck dazu, einen Impfstoff herzustellen. Sein Wissen hat ihm damals wohl das Leben gerettet. Doch sehr viel später begann eine neue Karriere des Ludwik Fleck – nach seinem Tod wurde er zum gefeierten Denker der Wissenschaftstheorie.

Alles begann beim Fleckfieber, Typhus exanthematicus. Das hat aber nichts mit dem Typhus zu tun, also Typhus abdominalis, das durch Salmonellen ausgelöst wird. Im Krankheitsverlauf kann es bei beiden jedoch zu einer Bewusstseinstrübung kommen, weshalb sie nach dem altgriechischen Wort für Nebel oder Dampf – »typhos« – benannt wurden.

Im Lauf der Geschichte ist das Fleckfieber immer dann aufgetreten, wenn viele Menschen unter schlechten hygienischen Bedingungen zusammenlebten. Häufig waren daher Soldaten betroffen, weshalb das Fleckfieber auch Kriegstyphus heißt. Der Übertragungsweg war lange Zeit völlig unklar. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts lieferte der französische Arzt Charles Nicolle (1866–1936) eine Erklärung.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Er stellte fest: Läuse sind das Problem. Aber wie verbreiten sie die Krankheit? Zahlreiche Mediziner machten sich nach Nicolles Entdeckung auf die Suche nach den Erregern. Sie wurden schließlich fündig – im Darm der Läuse. Es handelt sich um Bakterien aus der Gattung der Rickettsien; für das Fleckfieber verantwortlich ist Rickettsia prowazekii. Die lateinische Bezeichnung des Erregers setzt sich aus den Namen zweier Forscher zusammen, die nicht nur Pionierarbeit in der Fleckfieberforschung leisteten, sondern auch ein gemeinsames Schicksal teilen: Beide sind am Fleckfieber gestorben.

Der eine ist Howard Ricketts (1871–1910). Nach ihm ist die Gattung jener Bakterien, der Rickettsien, benannt, die von Zecken, Flöhen, Milben oder Läusen übertragen werden. Der andere ist Stanislaus von Prowazek (1875–1915). Er wies als Erster nach, dass sich die Bakterien im Magen-Darm-Trakt der Läuse vermehren. Beide, Ricketts und Prowazek, infizierten sich während ihrer Arbeit mit dem Erreger und starben. Das Wissen um den Verbreitungsweg führte jedoch zu neuen Wegen, die Krankheit zu bekämpfen: Da es weder ein Medikament noch einen Impfstoff gab, war eine regelmäßige Entlausung das wirksamste Mittel.

Ein erster Impfstoff kam aus Lwiw

Eine Stadt wurde im 20. Jahrhundert zum Zentrum der Fleckfieberforschung. Und es wird Zeit, endlich auf Ludwig Fleck zu sprechen zu kommen, der in dieser Stadt 1896 das Licht der Welt erblickte. Es ist Lemberg, das heutige Lwiw im Westen der Ukraine. In der Zeit von Flecks Geburt war es das östliche Zentrum der Habsburgermonarchie, die viertgrößte Stadt des Reichs.

Hier forschte der Mann, der ab 1917 den ersten Impfstoff gegen das Fleckfieber entwickelte und dem Fleck nach seinem Medizinstudium im Labor assistierte: Rudolf Weigl (1883–1957). Zwischen den Weltkriegen versuchten etliche Forscher, einen Fleckfieber-Impfstoff herzustellen. Das wirksamste Vakzin stammte zwar von Weigl, das Verfahren war jedoch derart aufwändig, dass an eine flächendeckende Impfkampagne nicht zu denken war. Denn bei der Herstellung mussten einzelne Läuse präpariert werden, wie der Biograf und Veterinärpathologe Andreas Pospischil in seinem Buch »Ludwik Fleck und das nicht nach ihm benannte Fleckfieber« anmerkt.

1941 begann für Fleck wie für den übrigen Teil der jüdischen Bevölkerung von Lwiw ein Kampf ums Überleben

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde aus Lemberg dann Lwów, weil die Stadt polnisch wurde. Das dortige Zusammenleben war anschließend von vielen Spannungen geprägt. Kurzzeitig brach ein Bürgerkrieg aus, weil die ukrainische Nationalbewegung die Stadt für sich beanspruchte, außerdem kam es zu einem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung.

Je nach politischer Situation kam Fleck an Jobs

Der Antisemitismus nahm in den folgenden Jahren immer mehr zu. Die polnische Regierung war zwar um einen Ausgleich bemüht und hat in einem Abkommen 1925 der jüdischen Bevölkerung den gleichberechtigten Zugang zu allen öffentlichen Ämtern zugesagt und einen Kampf gegen den Antisemitismus versprochen. Aber Fleck, der den ersten Hauttest zum Nachweis von Fleckfieber entwickelt hatte, machte sich auf Grund seiner jüdischen Herkunft keine Hoffnungen auf eine akademische Karriere. Er verließ daher die Universität und gründete bei sich zu Hause ein bakteriologisches Labor. Später übernahm er die Leitung des Labors der Lemberger Krankenkasse. Die Stelle verlor er wieder, nachdem sich die antisemitischen Übergriffe in den 1930er Jahren ausgeweitet hatten.

1939 änderte sich die Situation grundlegend: Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann der Zweite Weltkrieg und Lwów wurde in die Ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. Für kurze Zeit standen Fleck wieder mehr Karriereoptionen offen. So wurde er Direktor des Städtischen Hygieneinstituts und lehrte als Dozent am Lehrstuhl für Mikrobiologie.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er sein Hauptwerk, für das er heute gefeiert wird, bereits verfasst. 1935 hatten sich kaum Exemplare seines Buchs verkauft. Erst ein Zufall sorgte nach seinem Tod dafür, dass es inzwischen ein Klassiker der Wissenschaftsforschung ist: »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv«.

Flecks Kampf ums Überleben

1941 begann für Fleck wie für den übrigen Teil der jüdischen Bevölkerung von Lwiw ein Kampf ums Überleben: Deutsche Truppen überfielen die Sowjetunion, besetzten Lwiw und pferchten die jüdischen Bewohner in das Lemberger Ghetto. Schon bald brach dort eine Fleckfieberepidemie aus. Fleck nahm nun seine Forschungsarbeiten wieder auf.

Fleck bei der Arbeit | Die Fotografie zeigt den Mikrobiologen in seinem Labor in den 1950er Jahren, bevor er 1957 nach Israel auswanderte.

Innerhalb kürzester Zeit und unter äußerst widrigen Umständen entwickelte er ein Verfahren zur Herstellung eines Fleckfiebervakzins. Ihm gelang es, aus dem Urin Infizierter Antikörper zu isolieren. Den deutschen Besatzern blieben seine Erfolge nicht verborgen, weshalb sie ihn zwangen, die Arbeit für sie weiterzuführen. Allerdings verloren die Nationalsozialisten bald das Interesse an der Impfstoffproduktion, das Ghetto wurde geräumt und Fleck mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert.

Dort erkrankte er an Fleckfieber und musste körperlich hart arbeiten. Ein Zufall rettete ihm das Leben: Nachdem ihm zwei Rippen gebrochen wurden und er sich wegen einer Rippenfellentzündung kaum noch auf den Beinen halten konnte, wurde er in den Krankenblock gebracht, wo ihn polnische Häftlinge als bekannten Fleckfieberexperten erkannten. Das Naziregime wollte nun wieder seine Expertise nutzen. Zunächst im berüchtigten Block 10 in Auschwitz, wo zahlreiche SS-Ärzte Medizinversuche durchführten.

Später im KZ Buchenwald. Dort betrieb die Waffen-SS das »Hygiene-Institut« mit einer Abteilung für Fleckfieber und Virusforschung. Zunächst testeten sie dort die Wirksamkeit von Impfstoffen durch Menschenversuche; ab 1943 begannen sie damit, selbst Impfstoff herzustellen. So wurde Fleck im Januar 1944 von Auschwitz nach Buchenwald gebracht, um die Fleckfieber-Impfstoffproduktion zu leiten.

Vom Mikrobiologen zum Star der Wissenschaftsforschung

Im April 1945 wurde das KZ Buchenwald schließlich befreit. Fleck und seine Familie überlebten den Holocaust. Aber mit dem Fleckfieber hat sich der Immunologe nie wieder beschäftigt, obwohl er gleich nach Kriegsende wieder in die akademische Forschung einstieg. Bereits 1945 arbeitete er an der Universität von Lublin, wo er 1950 ordentlicher Professor für Mikrobiologie wurde. 1952 ging er nach Warschau. In diesen Jahren publizierte er mehr als 80 Studien und betreute über 50 Doktorarbeiten. 1957 wanderte er mit seiner Familie nach Israel aus, wo er 1961 starb.

Seinen Aufstieg zum Star der Wissenschaftstheorie erlebte er nicht mehr. Zu Lebzeiten war er als Mikrobiologe bekannt, heute viel mehr als Erkenntnistheoretiker. Das liegt an einer kurzen Erwähnung in einem Vorwort. Der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn (1922–1996) veröffentlichte ein Jahr nach Flecks Tod das Buch »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«. Ein Bestseller, der einen neuen Blick auf die Wissenschaft bot. Kuhn erwähnte Fleck nicht prominent in seinem Buch, sondern merkte nur im Vorwort an, dass er zufällig auf dessen Werk gestoßen sei, das einige seiner Gedanken vorwegnehmen würde.

Fleck interessierte sich nämlich dafür, wie eine wissenschaftliche Tatsache überhaupt entsteht. In seinem Buch geht er davon aus, dass nicht Einzelne eine neue Erkenntnis gewinnen, sondern immer nur eine Gemeinschaft. Das Radikale an seinem Ansatz war, dass es keine absoluten Wahrheiten gebe, weil Wissen nicht losgelöst und unabhängig vom Menschen existiert. So wurde Fleck durch eine lapidare Erwähnung in einem Vorwort zum Vordenker der modernen Wissenschaftsforschung.

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