Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer byzantinischen Ausnahmeprinzessin

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Als sich Anna Komnena im Jahr 1118 in ein Kloster in Konstantinopel zurückzog, war sie nicht politisch gescheitert, sondern sie startete erst so richtig durch – mit einer außergewöhnlichen Karriere. Das von ihrer Mutter gegründete Kloster Kecharitomene war kein Ort der Askese, sondern ein Zentrum byzantinischer Gelehrsamkeit. Anna lebte dort nicht wie eine Nonne, sondern wie eine Fürstin unter Gelehrten, ihre Gemächer entsprachen der kaiserlichen Würde. Ihr Leben war fortan geprägt von Diskussionen, Studien und der Arbeit an einem Werk, das in der Geschichtsschreibung des Mittelalters ohne Vergleich ist: die »Alexias«.
Anna Komnena war keine gewöhnliche Frau – sie war die Tochter des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos. Bei ihrer Geburt im Jahr 1083 in der Porphyra, dem mit Porphyrgestein ausgekleideten Geburtsraum des Großen Palastes, erhielt sie den Titel der Purpurgeborenen; Porphyr galt als purpurrot und damit als kaiserliches Symbol (obwohl er farblich eher einer Blutwurst ähnelt). Eine »Porphyrogennete« zu sein hieß, von Gott legitimiert in den Zirkel der Mächtigen zu rücken. Als Erstgeborene war Anna sogar als künftige Kaiserin vorgesehen. Doch mit der Geburt ihres Bruders Johannes im Jahr 1087 verlor sie diesen Anspruch – nicht aber ihren Ehrgeiz, wie sich bald zeigen sollte.
Bereits als Kind wurde Anna zur taktischen Figur in der höfischen Strategie: Mit nur sieben Jahren zog sie in den Haushalt ihres ersten Verlobten Konstantin Doukas. Dessen Mutter, Maria von Alanien, führte einen literarischen Salon, in dem Anna wohl erstmals Gelehrsamkeit und Weltgewandtheit erlebte. Nach Konstantins frühem Tod wurde sie mit Nikephoros Bryennios verheiratet, einem Gelehrten und Historiker, mit dem sie ihr intellektuelles Leben teilte.
Bildung als Machtstrategie
Anfangs zögerte der Vater, Anna weiterzubilden. In einem christlichen Reich galten antike Texte als gefährlich, besonders für Mädchen. Doch Anna las heimlich, nachts. Schließlich erkannte Vater Alexios den strategischen Wert guter Bildung. Angesichts innerer Instabilität und äußerer Bedrohungen durch Normannen, Türken und Kreuzfahrer sowie einer wachsenden Abhängigkeit von westlichen Handelsmächten setzte er auf Gelehrsamkeit als politische Ressource. Anna wurde Teil dieser Strategie: Sie studierte das Quadrivium, vertiefte sich also in Mathematik, Musik und Astronomie, aber auch in Medizin, Philosophie und die Werke von Homer und Aristoteles.
Mit Nikephoros als Partner und ihrer Mutter als Förderin, die für Anna Eunuchen als Privatlehrer wählte, wurde der kaiserliche Palast zum intellektuellen Zentrum. Philosophische Debatten gehörten zum Alltag. Anna versammelte Dichter, Denker, Kleriker und wurde zur vielleicht gebildetsten Frau ihrer Zeit.
Anna Komnena war aber weder die erste noch die letzte gebildete Frau in Byzanz: Theophanu (zirka 960–991), die Frau des römisch-deutschen Kaisers Otto II., Bertha von Sulzbach (1110–1158/60), die neben Manuel I. Komnenos als Kaiserin von Byzanz herrschte, und Agatha, eine Tochter Konstantins VII. (905–959), zeugen von einem Milieu, das weibliche Bildung nicht nur duldete, sondern durchaus auch förderte. Wie die Historikerin Judith Herrin in ihrem Buch »Unrivalled Influence – Women and Empire in Byzantium« betont, konnten Frauen im Byzantinischen Reich Einfluss üben. Bildung für Kaiserinnen war selbstverständlich, der klassische Kanon der Lehre stand ihnen offen.
Doch bei aller Gelehrsamkeit blieb das byzantinische Ideal weiblicher Tugend patriarchalisch geprägt: Gehorsam, bescheiden und unscheinbar sollten die Frauen sein. Agierten sie öffentlich, galten sie als unweiblich, ihre Bildung wurde schnell als Bedrohung wahrgenommen. Anna war sich dessen bewusst – und erfüllte diese Rollenerwartung in ihrem späteren Opus magnum auf geschickte Weise.
Niederlage im Kampf um die Macht – und Neubeginn
Nach dem Tod ihres Vaters Alexios im Jahr 1118 entbrannte ein Machtkampf. Kaiserin Irene Dukaina hätte wohl Anna und ihren Mann als Nachfolger bevorzugt, aber Alexios hatte bereits seinen Sohn Johannes dazu bestimmt. Dieser sicherte sich umgehend die Nachfolge und ließ sich zum Kaiser ausrufen. Ob Anna und Irene gegen ihn intrigierten, ist umstritten – eine spätere Quelle stilisierte die beiden zu Verschwörerinnen, doch die zeitgenössischen Berichte erwähnen weder konkrete Ereignisse noch Namen.
Fest steht: Anna verlor an politischem Einfluss. Der daraufhin folgende Rückzug ins Kloster war jedoch kein Exil, sondern ein selbstbestimmter Schritt. In Kecharitomene wurde sie zur Historiografin. Als ihr Mann um 1137 starb, wollte sie das Werk, das er begonnen hatte, vollenden. Es war eine Geschichte der Herrschaft ihres Vaters. Anna schuf mit der »Alexias« ein Werk, das seinesgleichen sucht.
Die »Alexias«, ein literarischer Kraftakt
In 15 Büchern schilderte Anna Komnena die Regierungszeit ihres Vaters. Es ist kein nüchterner Bericht, sondern ein vielstimmiges Werk voller Dialoge, Zitate, Reflexionen. Wie ihre Biografin, die Historikerin Leonora Neville von der University of Wisconsin-Madison, in ihrem Buch über die Prinzessin schreibt, vereinte Anna intellektuelle Autorität mit der Inszenierung weiblicher Emotionalität: Sie trat als trauernde Tochter auf, als leidende Witwe, aber eben auch als präzise Historikerin, die Quellen analysierte, Augenzeugen befragte, offizielle Dokumente zitierte.
In einer Zeit, in der Historiografie männlich, klösterlich und distanziert zu sein hatte, war dies ein radikaler Akt. Anna schrieb als Frau, die über die Vergangenheit berichtete, diese analysierte und interpretierte. Zudem legte sie sich politisch fest: Sie verteidigte ihren Vater, ohne ihn zu glorifizieren. Sie zeigte seine Schwächen, erklärte seine Entscheidungen und verortete sie in einem größeren politischen Kontext.
Lange haben Gelehrte die »Alexias« als unzuverlässige Quelle abgetan – wegen der familiären Nähe, wegen der emotionalen Tonlage, doch vor allem: weil sie von einer Frau stammte. Historiker wie Edward Gibbon (1737–1794) schätzten Anna Komnena gering, während männliche Mönche als »objektive« Autoren galten. Selbst ihr Zeitgenosse, der Geschichtsschreiber Johannes Zonaras, griff offenbar reichlich auf ihre Texte zurück, um sie im selben Atemzug als selbstverliebte Frau zu diskreditieren. Einzig ihre Darstellung des Ersten Kreuzzugs am Ende des 11. Jahrhunderts zog man öfter als Quelle heran, der Rest wurde mehr oder weniger ignoriert.
Seit wann Anna Komnena ernst genommen wird
Die moderne Forschung allerdings erkennt die »Alexias« zunehmend als das, was sie ist: ein Schlüsselwerk für das Verständnis des Byzantinischen Reichs, nicht nur des Ersten Kreuzzugs. Der Byzantinist Peter Frankopan von der University of Oxford betont, dass man ohne Anna Komnena kaum wüsste, was in dieser Epoche geschah. Ihre Detailgenauigkeit, ihre literarische Gestaltungskraft und ihre historische Einordnung machen das Werk einzigartig. Sie dokumentierte nicht nur, sie bewahrte.
Anna Komnena war keine Historikerin trotz ihrer Zeit, sondern durch ihre Zeit. Sie verstand, wie sie sich präsentieren musste, um ernst genommen zu werden, und wusste, wie sie diese Regeln unterlaufen konnte. Ihre »Alexias« ist ein Text zwischen Klage und Analyse, zwischen Rhetorik und Quellenarbeit. Sie ließ sich nicht vom patriarchalen Regelkodex einengen, sondern hebelte ihn geschickt aus und erweiterte damit sogar die Mittel historiografischer Darstellungen.
Am Ende schuf sie ein Werk, das mehr ist als ein byzantinisches Familienporträt: Es ist die kluge literarische Antwort einer gebildeten Frau auf eine Welt, die ihr Bildung und Stimme nur auf Umwegen zugestand. Und es ist ein Denkmal – für ihren Vater, für ihr Reich und nicht zuletzt: für sich selbst.
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