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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines falschen Arztes – oder: Warum Frühchen heutzutage überleben

Martin Couney stellte Frühchen in einem New Yorker Vergnügungspark zur Schau. Was die fragwürdige Behandlung bewirkte? Krankenhäuser richteten endlich Stationen für Frühgeburten ein.
Ausstellung mit Babys in Brutkästen. Das Foto entstand zwischen 1935 und 1945 auf Coney Island

Jedes Jahr pilgerten Millionen Menschen zum Vergnügungsareal auf Coney Island. Und einer von vielen Vergnügungsparks auf der Halbinsel von New York City war damals wie heute der Luna Park. Wer dort zwischen 1903 und 1943 unterwegs war, hatte die Möglichkeit, eine außergewöhnliche Ausstellung zu besuchen.

Vor der Ausstellungshalle war in großen Buchstaben zu lesen: »Baby Incubators – With Living Babies.« Zu Deutsch: »Baby-Brutkästen – mit lebenden Babys.« Das Motto der Sideshow lautete: »All the world loves a baby. Once seen, never forgotten.« – »Die ganze Welt mag Babys. Einmal angesehen, niemals vergessen.« Für einen Quarter, also für 25 Cent, bekamen die Besucherinnen und Besucher zu sehen, was heute unvorstellbar wäre: Babys, die in Brutkästen, um ihr Überleben kämpften.

Woran wärst du schon so gestorben?

Wären wir vor mehr als 200 Jahren auf die Welt gekommen – also vor der Entstehung der modernen Medizin –, hätten die meisten von uns es nicht ins Erwachsenenalter geschafft. Viele wären bereits bei der Geburt gestorben, andere wären ohne Medikamente wie Antibiotika von Infektionen dahingerafft worden. Besonders gefürchtet waren die Pocken. Damals gab es noch keine für alle zugängliche Impfung gegen die unheilbare Krankheit. Ein Viertel aller Infizierten überlebten die Pocken deshalb nicht.

Ein einfacher Test im Freundeskreis genügt, um sich der einst hohen Sterblichkeitsrate zu vergewissern: »Und, woran wärst du schon gestorben?« Die Frage eignet sich übrigens wunderbar als Party-Smalltalk. Auch uns, das Zeitsprünge-Team, hätte es längst erwischt: den einen mit einer Blinddarmentzündung, die ohne Operation tödlich verlaufen wäre, für den anderen hätte es als Frühgeburt keine Rettung gegeben.

Die Frühchen-Show vom Luna Park

Kinder, die etwa ab der 24. Schwangerschaftswoche geboren werden, haben heute gute Überlebenschancen. Das war lange Zeit anders. Die Baby-Ausstellung auf Coney Island zeugt davon. Betreiber der Inkubator-Ausstellung war »Dr.« Martin Couney. Seine Vorgeschichte liegt größtenteils im Dunkeln. Nur so viel ist über ihn bekannt: Er stammte aus Europa und kaum etwas spricht dafür, dass er tatsächlich ein Doktor war oder eine medizinische Ausbildung hatte.

Couney war zwar nicht der Erste, der Inkubatoren bei Ausstellungen mit lebenden Babys vorführte, aber er war der Erfolgreichste: Im Lauf von 40 Jahren ist es ihm so gelungen, schätzungsweise 6000 bis 7000 Frühchen zu retten.

Martin Couney mit zwei Frühchen | In einem Vergnügungspark in New York hatte Couney in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Frühchen-Station betrieben – als Ausstellung für Besucher.

Man fragt sich vielleicht: Warum kümmerten sich nicht die Krankenhäuser um die Frühgeburten? Der Grund: Es gab schlicht das medizinische Fachgebiet der Pädiatrie, also die Kinderheilkunde, in dieser Form noch nicht. Auch die Neonatologie, die Behandlung von Neugeborenen, bildete sich zu dieser Zeit erst langsam heraus. Und es ist noch gar nicht so lange her, da brachten die meisten Mütter ihre Kinder nicht in Krankenhäusern zur Welt. Wer es sich leisten konnte, mied die öffentlichen Hospitäler, die meist nur eine Grundversorgung – und oft schlechte Überlebenschancen garantierten.

Ethisch fragwürdige Ausstellung

Die Baby-Ausstellung im Luna Park bestand aus einem großen Raum mit dutzenden Inkubatoren, die aufgereiht an der Wand standen. Alle Brutkästen waren verglast, so dass die Besucher die Kinder von allen Seiten betrachten konnten. Die Inkubatoren waren mit einem Ventilationssystem ausgestattet, durch das Wärme und Sauerstoff automatisch reguliert wurden. Das ermöglichte auch eine konstante Temperatur im Brutkasten.

Auf den ersten Blick ähnelte die Schau mehr einem kleinen Krankenhaus: Es gab Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern in weißen Kitteln, die die Kinder pflegten – und ihnen deutlich mehr Zuwendung entgegenbrachten, als es in den damals schlecht ausgestatteten Krankenhäusern möglich gewesen wäre. Die Kinder wurden alle zwei Stunden mit Muttermilch versorgt und die Kleinsten vorsichtig durch eine Nasensonde gefüttert.

Es gab allerdings auch einen Showteil. Dabei wurden die Babys, die übergroße Kleidung trugen, um noch kleiner zu wirken, aus den Inkubatoren genommen und ihnen ein Diamantring über die Hand gezogen. Vermutlich um zu zeigen, wie schmächtig die Frühchen sind.

Ein falscher Arzt setzt neue Maßstäbe

Die Inkubator-Ausstellung war nicht nur aus heutiger Sicht ethisch äußerst fragwürdig, sie war auch damals umstritten. Allerdings scheiterten alle Initiativen, die auf ein Verbot drängten. Andererseits waren es häufig Krankenhausärzte, die Eltern nach Coney Island schickten – weil in den Hospitälern nicht genug Inkubatoren und Pflegepersonal für die Frühchen zur Verfügung standen.

Krankenhäuser waren lange Zeit nicht dafür ausgelegt, sich intensiv und lange um die Kleinsten zu kümmern. Obwohl Couney kein Arzt war, hatte seine Arbeit großen Einfluss auf die Kindermedizin. Er hatte mit seiner Ausstellung gezeigt, dass Frühchen in Brutkästen und durch Pflege und Zuwendung gute Überlebenschancen hatten. Erst in den 1950er Jahren sorgten nationale Pflegeprogramme in den USA für die Verbesserung der medizinischen Versorgung von Frühgeborenen – und es war Couneys Inkubatormodell, das zum Standard in US-Krankenhäusern wurde.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche eine Geschichte aus der Geschichte auf ihrem Podcast »Zeitsprung«. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.

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