Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines filmreifen Gefängnisausbruchs im Nirgendwo

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Es war im November 1875, als John Breslin nach Westaustralien kam. Seine Untergrundorganisation Clan na Gael hatte ihn gemeinsam mit einem Kumpan aus den USA ans andere Ende der Welt geschickt: in die Stadt Fremantle. Der Clan na Gael, die »Abkömmlinge der Gälen«, war ein Geheimbund, der für die irische Unabhängigkeit kämpfte. In Fremantle angekommen, checkte Breslin in ein Hotel ein und gab sich als amerikanischer Millionär aus – als reicher Investor auf der Suche nach Land und Minen.
Breslin spielte seine Rolle derart überzeugend, dass es nicht lange dauerte, bis der Gouverneur von Westaustralien Kontakt zu ihm aufnahm. Dieser führte seinen vermeintlich reichen Gast herum und besuchte mit ihm auch das Straflager in Fremantle. Breslin nutzte den Besuch, um einigen Inhaftierten ein Zeichen zu geben – allen voran James Wilson. Dieser und seine Mitinsassen schöpften nun neue Hoffnung nach Jahren harter Zwangsarbeit. Denn aus eigener Kraft aus Fremantle Prison zu fliehen, war ihnen aussichtslos erschienen. Westaustralien war damals kaum erschlossen, und wem es gelang, die Mauern zu überwinden, den erwartete der unüberwindliche Ozean auf der einen Seite und sengende Wüstenhitze auf der anderen. Fremantle Prison war das entlegenste Gefängnis des gesamten britischen Empire.
Das Gefängnis wurde 1855 gegründet, um Straftäter aus dem Vereinigten Königreich und Irland unterzubringen. Für die britische Regierung bot es vor allem eine Möglichkeit, Menschen verschwinden zu lassen, ohne ein Todesurteil zu vollstrecken.
Eine Stimme aus dem Grab rüttelte die Freiheitskämpfer wach
Sechs von ihnen wollte man nun befreien. Ihr Hilferuf hatte Clan na Gael ein Jahr zuvor erreicht. Ein heimlich aus Fremantle gesendeter Brief kam bei John Devoy (1842–1928) an, einem der führenden Köpfe des Geheimbundes. Absender war der Häftling James Wilson. Er schickte eindrückliche Worte, begann seinen Brief mit den Worten »remember this is a voice from the tomb«, es sei eine Stimme aus dem Grab. Wilson flehte um Hilfe. Devoy war erschüttert und beschloss, die (fast) vergessenen Mitstreiter zu befreien.
Zunächst verteilte er unter irischen Auswanderern tausende Abschriften des Briefs, die ihre Wirkung nicht verfehlten: Viele waren bereit, zu spenden und Devoys Sache zu unterstützen.
Die Rettung war ein symbolischer Sieg gegen die britische Übermacht
Drei Jahre zuvor hatte John Devoy selbst noch in Haft gesessen. Er war einer von vielen irischen Unabhängigkeitskämpfern, die versuchten, die britische Armee zu unterwandern.
Zwei Geheimbünde für die Unabhängigkeit
Seit Jahrhunderten war es im Königreich Irland, das in Personalunion vom englischen König regiert wurde, immer wieder zu Rebellionen gegen die britische Krone gekommen, die allesamt niedergeschlagen wurden. Ende der 1850er Jahre änderten die Unabhängigkeitskämpfer ihre Strategie und gründeten zwei Geheimorganisationen: 1858 in Dublin die Irish Republican Brotherhood (IRB) mit dem Ziel, Iren in den Reihen der britischen Armee zu rekrutieren. Und 1859 in den USA die Fenian Brotherhood, um die IRB mit Geld und Waffen zu unterstützen. Fenian wurde bald zum allgemeinen Begriff für Anhänger der irischen Unabhängigkeitsbewegung, wie der Journalist Peter FitzSimons in seinem Buch »The Catalpa Rescue« schreibt.
Devoy war für die Rekrutierung neuer Mitglieder zuständig und stieg bald in die Führungsriege der IRB auf. Doch ehe er und seine Mitstreiter losschlagen konnten, kam es zu einer ersten Verhaftungswelle. Den britischen Behörden gelang es, wichtige Köpfe der Bewegung zu verhaften. Als endlich das »Fenian Rising« im Jahr 1867 beginnen sollte, war es bereits zu spät. Die britische Armee war auf den Aufstand vorbereitet und hatte leichtes Spiel. Viele Fenians landeten im Gefängnis. Am härtesten traf es die Soldaten unter ihnen. Sie wurden teils zum Tode verurteilt, teils zu langen Haftstrafen. Vielen brannte man ein »D« für Deserteur auf die Brust.
Militärisch gesehen endete der Aufstand in einem Debakel. Die Fenians mussten sich neu organisieren, weshalb noch im selben Jahr in den USA der Clan na Gael gegründet wurde. Im Vereinigten Königreich hingegen waren die Gefängnisse voll mit Fenians, so dass die Regierung den Entschluss fasste, einige von ihnen nach Australien zu deportieren.
Im Oktober 1867 musste James Wilson gemeinsam mit mehr als 60 Fenians und 200 weiteren Strafgefangenen an Bord eines Segelschiffs in See stechen. 89 Tage später, Anfang Januar 1868, erreichten sie Fremantle. Währenddessen kam es im Vereinigten Königreich zu einem Politikwechsel. Der neue Premier William Gladstone drängte darauf, den Konflikt mit Irland zu entschärfen, was wiederum zu zahlreichen Begnadigungen für Fenians führte. Allerdings nur für diejenigen, die nicht in der Armee gedient hatten. So kam etwa John Devoy 1871 wieder auf freien Fuß, nachdem er vor die Wahl gestellt wurde: Freiheit im Exil oder Haft in Großbritannien. Devoy entschied sich für das Exil und engagierte sich von New York aus weiter für die Unabhängigkeit Irlands.
Eine waghalsige Rettungsaktion
Devoy, der dort als Journalist arbeitete, erhielt dann 1874 den Brief aus Fremantle, wo noch sieben Fenians, vergessen von der Welt, im Gefängnis saßen.
Devoy schickte nun nicht nur Breslin auf seine Geheimmission, sondern kaufte vom gespendeten Geld auch ein ehemaliges Walfangschiff, die »Catalpa«. Von der Crew war nur der Kapitän, George Anthony, in die Rettungsmission eingeweiht. Die Männer machten sich Ende April 1875 von New Bedford in Massachusetts auf den Weg nach Australien. Zuvor verbrachten sie noch einige Monate auf der Jagd nach Walen im Atlantik – das Walöl sollte die Unternehmung finanzieren.
Derweil schmiedete Breslin in Fremantle Fluchtpläne. Die Idee, die Gefangenen aus ihren Zellen zu befreien, verwarf er recht schnell. Er wählte eine andere Fluchtroute: Die Insassen mussten regelmäßig außerhalb von Fremantle Prison Arbeit leisten. Und da eine Flucht als nahezu aussichtslos galt, behielten die Wachen sie nur nachlässig im Auge. Darauf setzte Breslin. Bei einer solchen Gelegenheit wollte er sie treffen und mit einer Kutsche zu einem bereitliegenden Beiboot der »Catalpa« bringen, die drei Meilen von der Küste entfernt in internationalen Gewässern auf sie wartete.
Als die »Catalpa« Ende März 1876 Westaustralien erreichte, war es so weit. Breslin informierte im Hafen arbeitende Fenians. Das rettende Segelschiff brachte sich in Stellung, und das Beiboot wartete am Ufer. Am 15. April begann die Befreiungsaktion: Die Fenians hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Die sechs inhaftierten Männer arbeiteten gerade außerhalb des Gefängnisses und konnten sich unauffällig zur Kutsche absetzen, wo Breslin und sein Kumpan sie erwarteten. Die Flüchtigen machten sich auf den Weg, die 20 Meilen zur Küste schnellstmöglich zurückzulegen. Dabei konnten sie etwas Vorsprung gewinnen, weil die Wachen erst eine Stunde später die Flucht bemerkten und Alarm schlugen.
Eine Verfolgungsjagd wie im Actionfilm
Noch waren sie aber nicht in Sicherheit. Sie mussten noch mehrere Stunden zur drei Meilen entfernten »Catalpa« rudern, als ihre Verfolger bereits das Ufer erreicht und aus Fremantle Schiffe angefordert hatten. Dann kam ein Unwetter auf. Die geflohenen Fenians kämpften gegen die Wellen, der Mast ihres Beiboots wurde beschädigt. Nachdem sie sich wieder orientieren konnten, sahen sie in der Ferne die rettende »Catalpa« – aber nicht nur sie: Die »SS Georgette«, ein Passagierdampfer, steuerte ebenfalls auf die »Catalpa« zu, verfolgte sie eine Weile, drehte dann aber ab, weil ihr der Treibstoff ausging.
Die Fenians hatten Glück, dass die »SS Georgette« sie nicht im Beiboot entdeckt hatte. Allerdings bemerkten sie nun, dass ihnen ein anderes Schiff auf den Fersen war. Ein Kutter der Küstenwache, mit dem sie sich ein Rennen zur »Catalpa« lieferten. Sie ruderten um ihr Leben – und erreichten als Erste das Segelschiff. Der Kutter war zwar bereits in Rufweite, drehte dann aber ab.
In Sicherheit waren die Flüchtigen damit immer noch nicht. Denn inzwischen verfolgte sie wieder die frisch betankte »SS Georgette«. Und auf der war die Besatzung gerade damit beschäftigt, eine Kanone zu montieren.
Der Dampfer holte auf und versuchte, das Schiff Richtung Küste zu drängen. Dazu gaben sie mit der Kanone einen Warnschuss ab. Kapitän Anthony hisste daraufhin die US-Flagge und deutete darauf. Grund genug für den Kapitän der »SS Georgette«, die Rückfahrt anzuordnen. Zu diplomatischen Verwicklungen mit den US-Behörden war er nicht bereit. Die »Catalpa« machte sich schließlich auf den Weg in die USA.
Mitte August 1876 erreichten die befreiten Fenians New York und wurden begeistert empfangen. Der Erfolg verlieh der irischen Unabhängigkeitsbewegung massiv Auftrieb – obgleich bis zur Gründung der Irischen Republik noch Jahrzehnte vergehen sollten. Dennoch: Die Rettung mit der »Catalpa« war ein symbolischer Sieg gegen die britische Übermacht.
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